Sonntag, 16. August 2015

KSK - Teju Cole, Open City

KSK- Kurze schlechte Kritik, Was soll das? Wie kommt das hierher? - klick hier

Ich hasse es wenn Geschichten ganz am Ende eine Wendung nehmen, die enthüllt, dass alles bis zu diesem Punkt vollkommen anders gewesen sein soll, als man gedacht hat. Ich fühle mich für blöd verkauft. Ich soll im Rückblick bewundern, wie subtil der Autor das alles konstruiert hat! Von mir aus- aber was war mit meinem Leseerlebnis bis zu diesem Punkt? Das Gebäude, das ich mir in meiner Phantasie gebaut habe, wird nicht nur eingerissen, sondern auch als minderwertig diskreditiert- der Autor hatte die ganze Zeit etwas viel Tieferes und Beunruhigenderes im Sinn, er wollte es mir nur nicht verraten. Das ärgert mich prinzipiell. Und dann stellt sich noch die Frage: war denn die „falsche“ Geschichte, die ich bis dahin gelesen oder gesehen habe , für sich genommen trotzdem eine gute, befriedigende Story oder nicht? Sitze ich jetzt da, mit dem Gefühl, dass die Geschichte zwar vielleicht interessant gewesen wäre, wenn ich nur gewusst hätte, worum es eigentlich geht, mich aber, da ich es eben nicht wusste, total kalt gelassen hat? Oder hat der Teil bis zur überraschenden Wendung – auch „falsch gesehen“- dennoch auch für sich allein funktioniert?

Positives Beispiel “Fight club“ – ich hatte wie vermutlich 99,9 % aller Zuschauer beim ersten Mal keine Ahnung dass Edward Norton und Brad Pitt („Tyler Durden“) zwei Aspekte ein und derselben Person sein sollten. Als sich das- in der allerletzten Szene- herausstellt, war ich kurz stinkwütend. ABER: der Film, den ich in der Meinung ,das seien zwei verschiedene Männer, gesehen habe, war mitreißend, saukomisch und erschütternd, er war schon ohne die Pointe einer meiner Lieblingsfilme- also, wie man in Österreich sagt: sei’s drum.

Negatives Beispiel: „Gone Girl“, der beliebteste Krimi aus dem Vorjahr ( der dann prompt ebenfalls von David Fincher verfilmt wurde. Fincher scheint solche blödsinnigen unvorbereiteten Wendungen in den Vorlagen für seine Filme zu mögen- aber aus Gone Girl konnte selbst er nichts machen). Bei „Gone Girl“ von Gillian Flynn wird man ungefähr zweihundert Seiten lang von dem flachsten, ödesten Geschwätz gequält, das man sich vorstellen kann, Tagebuchaufzeichnungen der verschwundenen jungen Frau. So schrecklich, dass man schreien möchte vor Langeweile, sogar dann wenn man, wie ich, nur jede vierte Seite liest. Dann erfährt man, dass die Ödnis ABSICHT war- das Tagebuch war gefaket, und nur ein Ablenkungsmanöver. Schön, das mag ja ein guter Grund für die Hauptfigur gewesen sein, diesen Mist zu schreiben um ihre Verfolger abzulenken. Aber welchen Grund hatte die Autorin, mich, die Leserin mit dem Zeug zu quälen?

Teju Coles „Open City“ ist ein ähnlicher Fall. Die Hauptfigur, Julius, spaziert zuerst durch New York, dann eine Weile durch Brüssel, dann wieder durch New York. Der junge Mann ist ein Psychiater in Ausbildung (deshalb stand das Buch auf meiner Liste), und er kommt aus Nigeria, wie der Autor. Anders als der Autor hat er eine deutsche Mutter, nur der Vater war schwarz. Er spaziert also herum, beobachtet Leute, Häuser, redet mit ein paar Menschen, Zufallsbegegnungen, denkt auch mal an seine Vergangenheit. Dabei ist er immer irgendwie diffus distanziert, nie entwickelt sich auch nur die leiseste Beziehung, dafür hat er zu allem furchtbar gebildete Assoziationen. Es kommen immer wieder Orte der Gewalt vor, Ground Zero natürlich, ein Memorial für schwarze Tote aus dem Bürgerkrieg, die Einwanderungsbehörde. Der Erzähler beschreibt (jaja, ganz gut) und schwadroniert im Kopf hochgestochen vor sich hin, Nietzsche, Mahler, Derrida, Freud, sein Kopf ist ein einziges Name- und Zitatdropping. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, ich sei dazu aufgefordert, ihm dieses prätentiöse Gerede zu verzeihen, weil er schwarz ist, und dass ich, was ich bei einem weißen Erzähler unerträglich gefunden hätte, bei einem schwarzen bewundern soll.

In der Mitte wollte ich völlig gelangweilt aufhören, las in die Kritiken rein, hatte mich erinnert, dass sie gut waren- aber sie waren euphorisch. Hymnen! Praktisch alle verglichen ihn mit Sebald. Manche mit Walter Benjamin. Tenor: Teju Cole hat dem Prinzip des ziellosen Umherstreifens zu neuem Glanz verholfen. Alle sangen das Lob dieses wunderbaren Tons- ich war offenbar allein mit meinem völligen Entnervtsein von seiner Beziehungslosigkeit und seinen hochgestochenen Gedankenschnörkeleien. (Wobei ich natürlich einverstanden wäre, die Einsamkeit eines Helden mitzuerleben, aber damit er für mich fassbar würde, müsste er unter seiner Entfremdung und Einsamkeit leiden! Was nicht bedeutet, dass ein solcher Held jammern muss! Ein wunderbar einsamer Beobachter ist zum Beispiel der Held in Pessoas Buch der Unruhe, einsam, entfremdet, beobachtet er, ebenfalls gelassen- aber er ist zutiefst verzweifelt, weshalb man ihn versteht und alles miterleben kann).

Also: diesem Julius ist alles egal, und die Kritiker behaupten, das sei gerade das Schöne.

Las also noch weiter. ratlos- irgendwas stimmte da nicht. Mit mir? Den Kritikern? Mit Teju Cole? Mit Julius? Ahh! Mit Julius!!! Auf Seite 314 (!!) von 334 Seiten kommt die Pointe, die alles wendet: eine junge Frau, die ihn aus Nigeria kannte, während er sich nicht an sie erinnert, -sie war die Schwester eines Schulfreunds-, erzählt ihm am Morgen nach einer Party, dass er sie vor vielen Jahren vergewaltigt hat als er vierzehn und sie fünfzehn war. Sie ist seitdem traumatisiert, hat jeden Tag Alpträume von ihm, ihr ist klar, dass sie vor Gericht keine Chance gehabt hätte, sie waren allein, niemand hätte ihr geglaubt. Ihr ist inzwischen auch klar, dass er sich überhaupt nicht erinnert, deshalb muss sie es ihm wenigstens sagen.

Ah sooooooo. Also alles anders. Seine Haltung war die ganze Zeit die eines schwer psychisch gestörten Menschen, der ein Gewaltverbrechen begangen und verdrängt hat und so große Anteile von sich abgespalten hat, dass er überhaupt keine Gefühle mehr für irgendwas aufbringt. Ja gut. Super. Vermutlich ganz akkurat geschildert. Kann sein, dass so einer so ist. Aber warum zum Teufel musst ich mir bis Seite 314 seine gefühlsleeren, gekünstelten Ausführungen über New York und die Welt im 21. Jahrhundert anhören? Etwa weil er stellvertretend für alle vom schwarzen Kontinent stehen soll, in deren tiefsten Seelentiefen die Gewalt der Jahrhunderte solche Verheerungen angerichtet hat, dass sie jetzt nur noch großspuriges leeres Zeug denken können? Bullshit!

Oder ist es vielleicht so, dass der Autor zweigleisig fährt, dass er mir und sich selbst zur Sicherheit beide  Optionen offeriert: entweder mir gefällt das großspurige, „coole“ Zeug sowieso ganz toll,- dann muss ich die Sache mit der Vergewaltigung halt irgendwie schlucken. Oder ich finde es öde, dann krieg ich am Ende erklärt: ja klar ist es öde, das war Absicht! Es sollte ein seelisch verarmter pathologischer Fall geschildert werden.

Die Kritiker teilen sich in verschiedene Kategorien.

James Wood, (einer meiner Lieblingskritiker, mit dem ich sonst ganz oft einer Meinung bin) schreibt im New Yorker eine lange und begeisterte Kritik (Sebald! Benjamin!), er beschreibt jede einzelne Situation, die im Roman vorkommt- und erwähnt dann die Sache mit der Vergewaltigung mit keinem Wort. Am Ende schreibt er: „Julius is not heroic, but he is still the (mild) hero of his book. He is central to himself, in ways that are sane, forgivable, and familiar.” Hat er die Vergewaltigung- eine Schock und Sensationsszene- übersehen? Oder hat der berühmte James Wood das Buch etwa nicht bis zu Ende gelesen? Jedenfalls scheint es ziemlich unmöglich, dass er die Art, wie ein Vergewaltiger, der nicht im Stande ist über seine Tat nachzudenken, zu sich selbst steht, als „gesund, verzeihlich und vertraut" bezeichnet. Hier stellt sich mir ein echtes Rätsel- und ich bin das erste Mal im Kontext dieses Buches wirklich gespannt: hat James Wood die Vergewaltigung ebenso erfolgreich verdrängt wie der Held des Buches?? Bemerkenswert!

Dem Kritiker der Sunday Book Review ist sie wenigstens aufgefallen- er spaltet sie aber völlig vom restlichen Buch ab. Im letzten Absatz nach einer langen Lobeshymne macht er „einen kleinen Einwand“ geltend- die Sache mit der Vergewaltigung, das sei doch völlig unnötig, ein Anfängerfehler, womöglich sei das überhaupt nur das Werk des Lektors, der ein wenig Dramatik habe hineinbringen wollen .

Die meisten Kritiker sind mühelos wechselwendisch. Sie bleiben dabei, dass ihnen die Haltung des Erzählers angenehm und überaus sympathisch war, Sebald! Benjamin! – wunderbare heitere Gelassenheit! Wiedergeburt des unaufgeregten Flaneurs, - und dann, am Ende bewundern sie Cole dafür, dass ihnen der Erzähler nun doch „ein wenig unheimlich wird“ durch das, was da herauskommt.

Was jetzt??? Entweder der Ton war auf authentische Weise wunderbar gelassen- oder er war konstruiert, um einen durch die Verdrängung eines Gewaltverbrechens psychisch schwer gestörten zu charakterisieren: flach, emotional leer, prätentiös.

(Ich habe bei den amerikanischen Kritikern überall, wo es Fotos gab, draufgeklickt- sie sind alle weiß. Was nicht sehr verwundert. Vermutlich gibt es inzwischen ziemlich viele schwarze Romanautoren, die von ihren genuinen Erfahrungen berichten dürfen- aber Kritiker, die ja Urteile aussprechen, also die Macht der Objektivität vertreten sollen, sind immer noch in großer Mehrheit weiß. )

Also ich finde: das Ding fließt eben gerade nicht frei dahin, sondern ist überkonstruiert und symbolbeladen, wenn man es von der Schlusspointe aus anschaut, ist es ein einziger Holzhammer von einem Konstrukt: schwarz und weiß kämpfen mitten in der Brust des Helden- deswegen kriegt er eine weiße Mutter und einen schwarzen Vater. Historische Gewalt sitzt tief im Leben jedes Einzelnen, auch und gerade im dem der Opfer- deshalb hat er ein Mädchen vergewaltigt. Das alles ist nicht zu fassen, unbegreiflich- deshalb hat ers vergessen. Damit man dazu trotzdem ein bisschen Theorie bringen kann (black Box Seele, man glaubt man kann in die eigene sehen, is aber Illusion)- ist die Figur Psychiater. Da kann sie mal über sowas nachdenken. Und das endet mit einer Supersupersymbolszene: zuerst 9. Mahler, er sperrt sich selber aus auf die Feuertreppe, dann die Zahl der Vögel, die täglich sterben, weil sie gegen die Freiheitsstatue knallen. Ende. … Puhh.

Ende der Schimpftirade.



Wer einen wunderbaren Roman mit einem Verbrecher als Icherzähler lesen will, in dem die Verdrängung phantastisch erzählt, teilweise aufgelöst usw wird- spannend, philosophisch, großartige Sprache, dem empfehle ich John Banville „The book of evidence“.

Donnerstag, 13. August 2015

Notizen zu Alma Mahler-Werfel



 Ich komme zufällig auf Alma Mahler-Werfel: gestern war ich in "The Dead Ladies Show"- eine regelmäßige Show im Berliner Acud,  "that explores the collision of feminism and fabulousness, glamor and genius".  Gastgeberin ist die Übersetzerin Katy Derbyshire. Die Show ist immer ein Vergnügen- und gestern war eine der vorgestellten toten Ladies Alma Mahler-Werfel. Präsentiert wurde sie von Julya Rabinovich, die gerade an einer Novelle über sie arbeitet. 
Das hat mich daran erinnert, dass ich vor Jahren eine Besprechung der 
verfasst habe, und die habe ich hier ausgegraben. Mein Hauptanliegen war damals zwar, Hilmes These, dass Alma Mahler-Werfel an Hysterie gelitten habe, zu widerlegen, weil ich es ungeheurlich fand, dass die Zeiten wieder kommen, in denen man sexuell agressive Frauen, die man nicht einordnen kann, als hysterisch abtut, aber auch Alma selbst fasziniert mich als Person immer noch sehr. Ich glaube, ich muss irgendwann auf sie zurückkommen. Außerdem schreibe ich gerade an einer (wütenden) Kritik über den Film "Amy" - an dem mich genau dasselbe ärgert wie damals an dem Buch von Hilmes: eine wilde und aktive Frau wird von einem Biographen in ein hundertprozentiges Opfer verwandelt. Im Gegensatz zu Amy Winehouse war Alma Mahler-Werfel selbst keine große Künstlerin, aber sie hat Kunst geliebt und verstanden, und Männer, die sie hervorgebracht haben, viele Männer. 

 

Nichts schmeckt köstlicher als das Sperma eines Genies

 Oliver Hilmes Versuch das grandiose Monster Alma Mahler-Werfel klein zu kriegen
Über Alma- Mahler Werfel, Gattin von Gustav Mahler, Walter Gropius und Franz Werfel, Geliebte von Klimt, Zemlinsky und Kokoschka, Mutter von vier Kindern, verhinderte Komponistin, Sexikone,  trinkfeste Salongöttin, antisemitische Exilantin und berühmteste Wiener Muse des zwanzigsten Jahrhunderts, ist viel geschrieben worden. Aus der Art der Faszination, die sie in verschiedenen Epochen ausgelöst hat, lässt sich Interessantes über das Frauenbild der jeweiligen Zeit herauslesen. In den Künstlerkreisen des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts gehörten rasende Leidenschaften, sexuelle Exzesse und dramatische Affären, immer überschattet von der Bedrohung durch die Syphilis, zum Lebensgefühl. Allerdings war den Frauen eher die Rolle des Opfers zugedacht, das in diesen Stürmen unterzugehen oder sich an die Ufer des Bürgertums zu retten hatte.  Alma Mahler-Werfel hingegen lebte nach neun Jahren bürgerlichen Eheunglücks ihre wilden Affären in aller Öffentlichkeit, trank wie ein Loch, spann wüste Intrigen, kokettierte mit den Austrofaschisten, heiratete wieder und wieder einen Juden, machte ihre Habseligkeiten rechtzeitig zu Geld und rettete sich und ihn ins Exil. Bei alledem galt sie weiter als die schönste und begehrenswerteste Frau von Wien und wurde dafür bewundert und beneidet.
Nach dem Krieg und nach Werfels Tod verfasste sie ihre Memoiren, aber der Verlag weigerte sich den Text zu veröffentlichen, er sei „von klirrender Kälte und voller antisemitischer Ausfälle“. Uneinsichtig und beleidigt verschliss sie zwei Ghostwriter, bis sie mit fast 80 Jahren kapitulierte und Willy Haas, einem Freund des verstorbenen Werfel, das Placet gab „lebende berühmte Menschen“ zu schonen und „die ganze Judenfrage“ in der Versenkung verschwinden zu lassen. „Mein Leben“, die so entstandene parfümierte, geglättete, sentimentalische Version wurde in den Sechzigerjahren zum Megabestseller. Man wollte zwar nicht mehr so sein wie Alma, las aber ihre Erinnerungen an längst vergangene wildere Zeiten mit frivolem Schaudern.
In den Siebzigerjahren wurde sie von der Frauenbewegung entdeckt und von ihr auf zwei völlig unterschiedliche Podeste gestellt. Zum einen sah man sie als Prototyp der unterdrückten Künstlerin. Die Neunzehnjährige Alma Schindler war Kompositionsschülerin und schrieb in ihr Tagebuch: “Ich möchte eine große That thun. Möchte eine wirklich gute Oper komponieren, was bei Frauen wohl noch nie der Fall war.“ Diese Träume endeten jäh mit einem Brief ihres frisch Verlobten, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: “Wie stellst du dir so ein komponierendes Ehepaar vor?“ schreibt Gustav Mahler. „Hast du eine Idee wie lächerlich so ein eigenthümliches Rivalitätsverhältnis werden muss? ... Dass du so werden musst, wie ich es brauche, wenn wir glücklich werden sollen, mein Eheweib und nicht mein College – das ist sicher!“ Dazu notiert Alma in ihrem Tagebuch: „Mir war, als hätte man mir mit kalter Faust das Herz aus der Brust genommen.“ Was ihre wütenden Verehrerinnen gerne übersahen, ist, dass sie nur eine Nacht brauchte um zu der Einsicht zu kommen: „Ja, er hat recht. Ich muss ihm ganz leben, damit er glücklich wird.“
 Anderen Teilen der Frauenbewegung galt sie zur selben Zeit als das Gegenteil eines Opfers, als das Urbild der wilden, unbezähmbaren Frau, die sich furchtlos über die Konventionen ihrer Umgebung hinwegsetzt. Hier wurde wieder übersehen, dass die Kreise, in denen Alma lebte, weit weniger bürgerlich waren, als das Deutschland der Siebzigerjahre. Alma  wuchs in einem Künstlersalon auf, schon ihre Mutter hatte drei Kinder von drei verschiedenen Männern, lebte mit Almas Vater, dem Maler Emil Schindler und seinem Schüler Carl Moll in einer Menage à trois, und als der notorische Gustav Klimt der Familie in die Ferien nachreiste, unterbanden die Eltern seine Affäre mit Alma erst, als es allzu ernst wurde.
Wenn man nun die neue Biographie aufschlägt, fragt man sich natürlich gespannt: welcher Aspekt ihrer Persönlichkeit fasziniert denn nun heute? - und erhält von Oliver Hilmes die überraschende Antwort: gar keiner. Er eröffnet mit verschiedenen Stimmen, die fordern, Alma Mahler-Werfel nun endlich zu vergessen, zitiert Hans Wollenschläger, der meint, was bliebe schon von ihr, außer „das bisschen Unterleib“, grübelt anschließend, warum sich bisher überhaupt so viele Publizisten für sie interessiert hätten (was offensichtlich scheint, wenn man mit der Mehrheit des Publikums „das bisschen Unterleib“ keineswegs für nebensächlich hält, sondern für eins, wenn nicht gar das wichtigste, der weltbewegenden Themen- oder sollte sich da in den letzten Jahren etwas grundlegend verändert haben?), und stellt die Frage : Warum eine weitere, sechste Biographie? Als Leser, der dieselbige soeben aufgeschlagen hat, hofft man, die Frage sei rhetorisch gemeint, und Hilmes werde nun endlich mit dem brennenden Interesse für seinen Gegenstand heraus rücken. Aber darauf wartet man vergebens. Man muss sich die Antwort in Hilmes eigener Biographie suchen. Der erst zweiunddreißigjährige Politologe hat mit einer Arbeit über Gustav Mahler promoviert.– und sicher hatte er bei der Gelegenheit schon mit den Tagebuchaufzeichnungen von Mahlers Frau Alma zu tun. Offensichtlich hat er bei der Gelegenheit  in den Belangen der unglücklichen Ehe leidenschaftlich Partei für Mahler und gegen Alma genommen, und es scheint, dass sein Wunsch, die Ehre Mahlers als Ehemann zu rehabilitieren der Auslöser für die vorliegende Biographie von Alma war. Das Kapitel über die Ehe der beiden liest sich streckenweise so, als wolle Hilmes Alma für immer erledigen, damit die Nachwelt nie wieder dem Glauben schenken würde, was sie über Mahler geschrieben hat. Dabei attackiert er sie nicht direkt, sondern greift zu einem Mittel, das man schon verschwunden geglaubt hat: er diskreditiert sie als Hysterikerin. Was er natürlich keineswegs als Beschimpfung verstanden haben möchte, ihm geht es darum, so schreibt er, zu zeigen, dass sie tatsächlich psychisch krank gewesen sei.  Sie wäre demnach weder große Liebende noch femme fatale gewesen, kein „Monstre sacré“, keine unterdrückte Künstlerin sondern nur ein bedauernswertes Opfer ihrer Krankheit. Obwohl Hilmes seine Hysteriehypothese nur äußerst fadenscheinig und widersprüchlich begründet, folgen ihr die meisten Rezensenten willig und finden sie „erhellend“. Seine Sicht auf Alma scheint also den Zeitgeist genauestens zu treffen. Das ist beunruhigend, denn die wechselnde Art wie Alma gesehen wurde, war er über die Jahre eine Art Marker. Sie war eine offen sexuell offensive Frau, sie hätte ein Vorbild für die neue Frauenbewegung sein können, wäre sie nicht ebenso lautstarke Antisemitin gewesen. Sie war also immer für alle ein Skandal. Denn wer als Frau so radikal gegen die Regeln verstößt, der sollte dann wenigstens nicht so widersprüchlich sein, eine solche wilde Frau kann völlig gut sein oder völlig böse, aber doch nicht wirklich ein Subjekt! Aber mit Hilmes ist das ganz alte Erklärungsmuster zurück: sexuell aggressives Verhalten bei einer Frau ist, so sagt es, nur eine Illusion, es ist eine Krankheit der Unterleibs, ist nicht aktiv, und in Wirklichkeit auch gar nicht sexuell.
Hilmes schlägt gleich zu Anfang einen betulichen, moralisierenden Ton an: „Wenn man Almas Tagebücher liest,“ schreibt er gleich, „ist man an vielen Stellen verblüfft über den drastischen Exhibitionismus und nicht selten abgestoßen von der kalten Menschenverachtung. Doch ehe man sich moralisch darüber erhebt, sollte man bedenken, was man zu lesen bekäme, wenn wir selber mit der gleichen Ehrlichkeit und Rückhaltlosigkeit  wie Alma zu Papier brächten, was wir wirklich denken und fühlen.“
Diese scheinheilige Mahnung, die gleichzeitig „drastische Stellen“ verspricht (was im Übrigen eingehalten wird!) erinnert an die klassischen Vorworte pornografischer Literatur der Jahrhundertwende. Die Lebensbeschreibungen der Josefine Mutzenbacher und der Fanny Hill beginnen mit ganz ähnlichen Vorworten, die mahnen, man solle trotz gerechtfertigter Empörung die armen Frauen nicht zu früh verurteilen, man müsse ihre Lebensumstände berücksichtigen und aus den schrecklichen  Geschichten, die nun folgen würden, eine Lehre über unsere Welt ziehen. Hier schließt sich ein kleiner Kreis: Hilmes schreibt an anderer Stelle, Almas Autobiografie „Mein Leben“ habe sich im Dunstkreis der Mutzenbacher verkauft. Und mit seinem Vorwort appelliert er, der selbst tatsächlich nicht zu verstehen scheint, was „an einem bisschen Unterleib“ interessieren könnte, an ein Publikum, das dies sehr wohl begreift, und seinem  Buch auch bereits einen beachtlichen Verkaufserfolg beschert hat.

HYSTERIE
„Alma eine Hysterikerin? Darf man einen Menschen so abstempeln?“ fragt Hilmes, um es gleich darauf genüsslich zu tun. Die Symptome hätten sich schon bei der jungen Alma Schindler gezeigt, schreibt er:  "Das ständige Schwanken zwischen emotionaler Kälte und erotischer Überspanntheit, ein Hang zur Koketterie bei gleichzeitiger Ablehnung körperlicher Nähe, die ausgeprägte Vorliebe für theatralische und häufig unangemessene Posen, die starke Neigung zu Oberflächlichkeit und Tagträumereien, das Spielen mit Selbstmordgedanken sowie eine weitgehende Unfähigkeit, Kritik zu ertragen". Allerdings gibt es wohl kaum ein junges Mädchen, auf das diese Beschreibung nicht zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Spätpubertät gepasst hätte. Und es gibt Menschen, die auch nach der Pubertät nicht zur Ruhe kommen, immer unzufrieden bleiben, schwankend, auf der Suche nach etwas, was sie oft selbst nicht definieren können. Allerdings nennt man eine solche Wesensart nur bei Frauen „hysterisch“, bei Männern ist es ein „faustischer Charakter“. („Ich taumle von Begierde zu Genuss, und im Genuss verschmacht ich nach Begierde“). Wenn dieser Kampf gegen die innere Leere, diese ständige Suche nach neuen Reizen eine Krankheit oder wenigstens ein Syndrom sein soll, wie es Hilmes unterstellt, dann müsste das Gegenteil davon „normal“ sein: ein Mensch, zufrieden  mit den kleinen Freuden des Lebens, beständig in seinen Gefühlen, moderat in der Ausdrucksweise. Aber könnte man einen solchen Menschen nicht auch borniert nennen? Einen „Petit bourgeois“, einen langweiligen Spießer? Bestimmt hätte Alma Mahler so über den anderen Teil der Menschheit gedacht.

                        SEX- DAS SPERMA DES GENIES
Hilmes bemüht sich das ganze Buch hindurch nachzuweisen, Alma sei frigide gewesen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, zumal sie in ihren Tagebüchern mit eben jener „drastischen Offenheit“, vor der Hilmes im Vorwort gewarnt hat, ihre Erlebnisse beschreibt. Kurz nach ihrer Verlobung schläft sie mit Gustav Mahler: „ ..Ich ließ seine Hand gewähren. Steif und in all seiner Pracht stand sein Leben. .. Er schwang sich über mich. Da- im Moment, wo ich ihn eingehen fühlte, verlor er alle Kraft. Er weinte fast vor Scham. Ich kann nicht sagen, wie mich das Ganze irritiert hat. Erst das Wühlen in meinem Inneren, dann das Ziel so nahe und keine Befriedigung.“  Beim nächsten Mal notiert sie: „Wonne und Glück.“ Beim folgenden „Wonne.“ Aber in der Ehe ließ die Wonne schnell nach. Nach zwei Jahren schreibt sie: „Er fürchtet sich so vor dem Weibe, dass er davon psychisch impotent wird. Seine Art mich zu lieben, wird immer mehr ein mich in der Nacht im Schlaf überfallen.“ Daraufhin wird sie von Hilmes wütend zurecht gewiesen: “In Almas Büchern gibt es zahlreiche Stellen, an denen sie Mahler als prüde und verklemmt hinstellt. Sie blendet dabei die Realität aus, denn schließlich deuten Mahlers erotische Beziehungen, die er vor seiner Ehe zu etlichen Frauen hatte, kaum auf Angst vor dem weiblichen Geschlecht an sich hin.“  Die Verve mit der Hilmes hier Mahler gegen Almas Vorwürfe zu verteidigen versucht, ist rührend in ihrer Loyalität. Aber dass ein Mann vor der Ehe Verhältnisse hatte, lässt sich nun wirklich nicht als Beweis dafür anführen, dass er als Ehemann keine sexuellen Problemen gehabt haben könne. Hilmes ist aber überzeugt: wenn Alma in der Ehe mit Mahler sexuell unzufrieden war, dann kann das als deutlicher Beweis ihrer hysterischen Persönlichkeitsstruktur gewertet werden. Aber Almas „wilde Jahren“ sollten erst kommen

        Nach acht unglücklichen Ehejahren, und dem Tod ihrer ältesten Tochter an Diphtherie, verliebte sich Alma bei einem Kuraufenthalt in den vier Jahre jüngeren Walter Gropius und begann eine leidenschaftliche Affäre. Zwei Jahre später starb Mahler an einer Herzklappenentzündung und die verwitwete Alma Mahler kehrte ins gesellschaftliche Leben zurück. Es folgte eine Zeit, in der ihr die Männer, vornehmlich Genies, verfielen wie die Fliegen, aber keineswegs an ihr verbrannten sondern aus der Begegnung mit ihr eine Kraft schöpften, die sie wie wild zum Schreiben, Komponieren oder Malen trieb.
Hilmes interessiert sich komischer Weise überhaupt nicht für die Fragen, die alle anderen Biografen, inklusive Alma Mahler selbst, bewegt haben: Wie hat sie es gemacht? Wieso  wurde sie von so Vielen so rasend geliebt? Niemals verlassen? Wie hat sie diese wilden Glücksmomente ermöglicht? Tatsächlich muss sie sehr vorurteilsfrei gewesen sein. Die sexuellen Erlebnisse, über die sie in ihren Tagebüchern berichtet, sind zum Teil gelinde gesagt ausgefallen. Der Biologe Kammerer kniete nieder, wenn sie aufstand, und beroch und streichelte den Platz auf dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Oskar Kokoschka und Alma verliebten sich unbezähmbar und auf den ersten Blick. Drei Tage später warf sie ein andere Frau aus seinem Atelier, schleuderte deren Staffelei aus dem Fenster und es folgten Wochen in denen die beiden abwechselnd miteinander schliefen und er sie malte. „Ich bin vor dir wie ein Heide, der zu einem Stern betet“ schrieb er ihr. Er geriet in einen wahren Schaffensrausch und malte einige seiner schönsten Bilder. Gleichzeitig verfolgte er sie mit rasender Eifersucht, „Wenn ich jede mir fremde Vorstellung aus deinem Hirn mit einem Messer herauskratzen müsste, würde ich es tun“ und wollte von ihr geschlagen werden. Als sie sich nach drei Jahren von ihm trennte, ließ Kokoschka von einer Puppenmacherin eine lebensgroße Almapuppe herstellen. Er schickte ihr dazu Skizzen der kleinsten Hautfalten und verfiel in eine tiefe Depression, als die Puppe nicht so echt wirkte, wie er es gehofft hatte. Er nannte sie „die stille Frau“, kleidete sie an, fuhr mit ihr im Wagen spazieren, ging mit ihr in die Oper und ließ die Puppe von einem Mädchen bedienen, das sich wiederum in Kokoschka verliebte und sich seine Initialen mit einem Messer in die Brust tätowierte. Eines Tages schnitt er der „stillen Frau“ auf einer Party den Kopf ab, übergoss sie mit Wein und hatte Alma überwunden. Aber er schrieb ihr ein Leben lang wunderbare Briefe und blieb der Überzeugung, er verdanke ihr all seine Kraft. 

Franz Werfel, neun Jahre jünger als Alma, ein „hässlicher Jude mit Froschaugen“, der ihr sofort ausnehmend gefiel, wurde ihr dritter Mann. Mit ihm ging sie nach Amerika ins Exil und blieb bis zu seinem Tod mit ihm zusammen. Die ersten Jahre mit ihm waren ebenfalls ein sexueller Rausch. „Es ist merkwürdig“ schreibt sie, „dass sich das Gefühl in zwei Jahren stärkster körperlicher Gemeinschaft nicht verringert, sondern nur vermehrt hat.“ Werfel gesteht ihr seine Sexualphantasien: er träumt von Krüppeln. Und Alma geht darauf ein: „konnte nicht schlafen vor Erregung. Sah eine einbeinige Person – liegend. Er und ich. Berauschte mich daran.“

Wie hat sie es also gemacht? Sie soll einmal gesagt haben: „Nichts schmeckt köstlicher als das Sperma eines Genies.“ Ein Satz, über den man zunächst lachen muss, weil man sicher zu wissen glaubt, dass das Sperma eines Genies nicht anders schmecken kann als das gewöhnlicher Männer. Aber den meisten Zeugnissen zufolge war Alma, was Leidenschaft und Sex betraf, niemals ironisch. Das war für sie heiliger Ernst und ernst wird sie auch diesen Satz gemeint haben. Er bedeutet das Gegenteil dessen, was man als den Grund des allgemeinen Interesses für das Sexualleben von Berühmtheiten hält: dass diese nämlich auch nicht besser seien als man selbst, dass auch die größten Künstler nur die allergewöhnlichsten Bedürfnisse hätten- eben das „bisschen Unterleib“. Almas hingegen muss körperliche Vereinigung für etwas dem schöpferischen Akt Ebenbürtiges gehalten haben. Und wie die  Kunst ihrer Männer weit großartiger war, als alles, was gewöhnliche Menschen zu leisten im Stande sind, so war auch das Produkt ihres Liebesakts tausendmal köstlicher als das eines gewöhnlichen Mannes. Und das meinte Alma offenbar keineswegs metaphorisch. Sie hat die sexuellen Kräfte ihrer Männer in vollem Ernst für heilig erklärt, und sie dadurch zu künstlerischen Höchleistungen gebracht.  

. Sie hat die Männer in ihrer Sexualität vollkommen angenommen und geliebt, in ihren eigenen Worten: sie hat sie „als ungetrennte Leibseele in sich aufgenommen“. Das war ihre Kunst, und es scheint nicht viele gegeben zu haben, die sich mit ihr darin messen konnten. Ein Biograf, der für diese spezielle Fähigkeit absolut kein Interesse aufbringt, erinnert ein bisschen an den Musikkritiker in dem Lied von Georg Kreisler, der gelassen (und falsch) singt: „Für mich hat das alles kann Sinn, weil ich un- musikaaalisch bin.“

ANTISEMITISMUS
Alma Mahlers antisemitische Äußerungen gehören zu den wirklich unangenehmen Stellen in ihren Tagebüchern. Allerdings ist ihre Einstellung sehr aufschlussreich für das geistige Klima im Vorkriegswien. Hilmes stellt Almas Antisemitismus als „Wahn“ dar, als psychologische Abstrusität. Seiner Meinung nach habe sie den Antisemitismus nur benutzt, um Macht über ihre jüdischen Geliebten zu erhalte und so ihre eigenen Minderwertigkeitskomplexe zu überdecken. Bleibt die Frage, wieso all die Männer sich das gefallen ließen.

Hilmes beschreibt zwar, wie die antisemitische Stimmung in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Bürgermeister Lueger immer mehr zunahm, er trifft das Klima aber insofern nicht, als man den Eindruck erhält, einer Mehrheit von „anständigen“ Menschen, die in etwa so gedacht hätten, wie wir heute, sei eine Gruppe von Andersdenkenden, von Antisemiten gegenübergestanden. Tatsächlich war es aber damals common sense, dass es große rassische Charakterunterschiede zwischen Ariern und Juden gäbe – nahezu alle dachten so, auch die Juden. Ob man Antisemit war, entschied sich erst in der Bewertung dieser Unterschiede. Juden galten im Große und Ganzen als intellektueller, dialektischer denkend und „gefinkelter“ als die Arier; als weniger begabt fürs Große, Monumentale, Erhabene; als unsportlicher; als witziger, materieller orientiert, kühler, berechnender, ironischer. Die Bewertung dieser Eigenschaften schwankte stark. So waren zum Beispiel auch Antisemiten bereit, Juden für das intelligentere Volk zu halten. Im selben Atemzug deklarierten sie es aber für einen üblen Charakterzug, der Intelligenz eine herausragende Bedeutung zuzuschreiben (vor Mut, Tapferkeit, Kraft usw) Aber es  konnte es für manche Arier doch ärgerlich sein, von sich selbst als Angehöriger der dümmeren Rasse denken zu müssen. Alma schreibt in ihrem Tagebuch: „ Nervös und gescheit bin ich, bis zu einem gewissen Grade- nämlich jener Ariergescheitheit mit dem Lückenhirn. Ich kann nichts ganz ausdenken!“
Juden in Wien hatten damals zwar unter dem Antisemitismus zunehmend zu leiden, aber sie waren keine arme, unterdrückte Minderheit. Eine vergleichbare Blütezeit von Kunst und Kultur wie im Wien der Jahrhundertwende hat es nirgends gegeben, und ein Großteil der Protagonisten waren Juden. Antisemit in der Kunstszene zu sein bedeutete also, sich gegen ein herrschendes Prinzip aufzulehnen. Alma schreibt immer wieder, sie wolle die Juden „heller machen“. Was uns heutzutage völlig verwirrend erscheint, sind die Konnotationen von dunkel und hell. „Dunkel“ bedeutete in Almas Terminologie Vernunft, „hell“ bedeutet Rausch. Dunkel waren für sie Liberale, Intellektuelle und Juden. Hell waren Arier und Mystiker. (Die Zuordnung ist also genau umgekehrt zum wörtlichen Sinn von „Aufklärung“.) Alma Mahler wollte ihre jüdischen Geliebten durch die mystische Kraft der Sexualität hinaufführen ins Helle und in den Rausch. Man kann davon ausgehen, dass diese Vorstellung ihren jüdischen Geliebten keineswegs vollkommen absurd vorgekommen ist. Sie wollten sich von der Vernunft befreien und in den Rausch katapultieren lassen. Und viele Juden waren überzeugt, dass es ihr jüdisches Wesen sei, dass sie in den Tiefen des Vernunftdenkens gefangen halte. (In „Geschlecht uns Charakter“ schreibt der jüdischen Autor Otto Weininger Juden seine in einem „Zustand vor dem Sein“ und daher müssten sie „gegen sich kämpfen, innerlich das Judentum in sich besiegen“, um Menschen, also Männer, zu werden). 

Anmerkung: Joshua Sobol hat zuerst ein Stück über Otto Weiniger geschrieben, "Weiningers Nacht", dann eines über Alma Mahler-Werfel.: Alma. Beide wurden von Paulus Manker aufgeführt, "Alma" läuft in Wien seit 20 Jahren jeden Sommer. Es ist wirklich hochinteressant, schrecklich und faszinierend, die Gedankengänge der beiden, Alma und Weininger, über Sex und Juden zu vergleichen.

Alma war überzeugt, dass sie zum Katalysator für einen solchen Erlösungsprozess jüdischer Genies bestimmt war. Zwar waren diese Männer nichts ohne sie, das Jüdische an ihnen galt ihr als das Verächtliche, das, was zu überwinden war, aber für die kathartische Explosion war das Jüdische Dunkle, das in der Vereinigung ja erst ins Helle gehoben und transzendiert werden sollte, auch notwendig. (Der von  vornherein helle, arische Walter Gropius wurde ihr schnell langweilig). 

Hilmes deutet Almas helle, arische Rauschphantasien als pathologische  Störung, als individuellen Wahn. Er glaubt, die jüdischen Männer hätten ihr das nur wegen ihres hübschen Gesichts verziehen- und übersieht den massiven jüdischen Selbsthass dieser Zeit. Er übersieht, dass der Wunsch nach Rausch und Extase, der uns heute so eindeutig dem aufkeimenden Faschismus zugehörig scheint, damals durchaus auch von Juden geteilt wurde. Hier war keine einzelne Frau im „Wahn“ inmitten „normaler“ Männer, denen sie mit ihrem Unterleib das Hirn vernebelt hätte.(Außerdem war dann sie diejenige, die mit geradezu jüdischer Vernunft im letzten Augenblick ihre und Werfels Flucht organisiert hat und sie beide erfolgreich und mit einem großen Teil ihres Vermögens nach Amerika gebracht hat)

ICH LIEBE ALSO BIN ICH

Man kann sich ungefähr vorstellen, was sich die junge Alma erträumt hat: wenn sie sich Mahler unter Opfern völlig hingäbe, würde etwas Wunderbares geschehen, etwas, das ebenso gut, vielleicht sogar besser wäre als Musik. Obwohl die Ehe sehr unglücklich war, und Mahler unter Hingabe ihre Existenz als besser Haushälterin verstanden hat, hat sie diesen Glauben nicht aufgegeben: dass es durch (sexuelle) Liebe genauso möglich sein müsste den Alltags zu transzendieren, wie durch Kunst, am besten durch Liebe zu einem Künstler, der durch und in dieser Liebe überhaupt erst zum Künstler wird. Kokoschka hat ihr geschrieben: „Wenn du mir als stärkendes Weib aus der geistigen Verwirrung hilfst, wird das Schöne jenseits unserer Erkenntnis, das wir verehren, Dich und mich mit Glück segnen.“
Vermutlich ist es genau das, was sie wollte: einem genialen Mann aus der Verwirrung helfen um dadurch mit seinem Genie sosehr zu verschmelzen, dass sie Zugang erhielte zum “Schönen jenseits der Erkenntnis“ und gemeinsam mit ihrem Geliebten durch dieses Schöne mit Glück gesegnet werde. Und es scheint so, als ob ihr das auch immer wieder gelungen ist.
„Dein Wahlspruch ist: ich denke also bin ich. Meiner: ich liebe also bin ich.“
Am Ende der Biographie kommt Hilmes zu dem Schluss: „Dass Alma auf ihre Ehen und Liebesaffären reduziert wurde, daran war sie selber nicht ganz unschuldig.“ Nun – wohl wahr! Mit demselben Recht könnte man sagen: das Mahler auf seine Musik reduziert wurde, daran war er selber nicht ganz unschuldig…
            Dennoch, obwohl sie ihre Träume immer wieder eingeholt hat, sind sie ihr auch immer wieder entglitten. Die Leidenschaft zu den Männern hat nach einer Weile nachgelassen, und während sie ratlos zurückgeblieben ist, haben die Männer immer weiter komponiert, gemalt und geschrieben. Die Liebe hat sich letztlich doch nicht als ein so haltbares Lebensprojekt erwiesen wie die Kunst. In dieser Hinsicht sind ihre so außergewöhnlichen Erfahrungen vielleicht doch für viele Frauen typisch.
„Schreib mir einen sinnlichen Brief“ bat Oskar Kokoschka, „weil ich ins puritanische England zurück fliege, wo man ganz vergisst, einen Körper zu haben, der in einem zweiten Körper herumstoßen wird und blutlüstern ist wie eine Stierin, die denn Mann zu sich nimmt und ihn nicht mehr loslässt, bis er hin ist. Wo anders her könnte es mir denn auch so kommen als von der, die sich mir als erste geboten hat, auf dass mir alles Glück, Elend, Schmerz, Wonne, Raserei und Verenden im Blutrausch gelehrt war. Du warst meine Lehrerin und Meisterin und ich habe Vielen das gleiche getan in treuer Nachfolge und im rechten Sinn, kommend aus mir tief drinnen, wo Du sitzt mit offenen Schenkeln und den Wein aus der Traube presst.“ Dass der Schreiber dieses Briefes 76 Jahre alt war und Alma, die Empfängerin, über achtzig, findet Hilmes „bizarr“. Es gibt aber sicher Menschen, die das wunderbar finden und sich fragen: Wie hat sie das gemacht?