Dienstag, 27. August 2019

Deutscher Buchpreis 2019- Leseprobenheft Teil 2 (Grill, Köhler, Kühmel)

Die Longlist für den Deutschen Buchpreis ist da, es gibt wieder ein gratis Heft mit Leseproben (Hier gibts eine Liste der Buchhandlungen, in denen man es sich holen kann). Unter dem Motto "Testet die Anfänge" stelle ich mir bei jedem Text zwei Fragen:
1: Würde ich nach der ersten Seite weiterlesen? Ich persönlich entscheide normaler Weise immer spätestens nach einer Seite.
2: Würde (oder werde) ich nach der ganzen Leseprobe in diesem Heft weiterlesen ? 
Ich beantworte diese Fragen spontan und versuche dann herauszufinden, was es war, das mich zu diesen Entscheidungen gebracht hat. Das ist natürlich vollkommen subjektiv, hat nichts mit seriöser Kritik zu tun und ist auch noch von meiner jeweiligen Augenblicksverfassung abhängig. Umso mehr würde ich mich über  Kommentare freuen.

Ich bespreche die Proben in Dreierschippeln. Hier war Teil 1. Jetzt folgt Teil 2:





ANDREA GRILL Cherubino

1: nein

2: nein

1:Der erste Absatz irritiert mich gleich schrecklich: "Sie sah wieder aus dem Fenster. Grün, unerwartet grün, auch hier. Grashalme spiegelten sich in den Fliesen der Fensterbank, und da, auf den lanzettförmigen Silhouetten, lag der Stab. Er würde zeigen, ob sie recht hatte." Ich bin völlig ohne Orientierung: wo ist die Protagonistin? Und was ist das für ein mysteriöser Stab? Zwei Absätze später stellt sich heraus: die Frau ist auf dem Klo einer Konditorei und der mysteriöse "Stab" ist ein Teststäbchen von einem Schwangerschaftstest. Der wabernde Nebel der Unklarheit spiegelt dabei nicht etwa den Geisteszustand der Protagonistin wieder, sondern wird von einer auktorialen Erzählerin eingesetzt, die offenbar meint, Leser*innen, würden einen Text, bei dem man nur Bahnhof versteht, automatisch für literarisch wertvoll halten.

2: Prätentiös gehts auch weiter. Eine Erinnerung- nicht etwa ans Schwangerwerden- sondern an den Moment, als sie den Test gekauft hat- und wo nichts weiter passiert ist; als dass sie den Test gekauft hat. Allerdings: 
"Hinter der Apotheke ließ sich eine Landschaft ausklappen." Was soll denn das nun wieder heißen? Wieder kein Paralleluniversum, sondern ein Fenster, durch das sie eine Wiese sieht. Bilder, die so schief sind, dass man sich die einfachsten Dinge nicht vorstellen kann..... Ärgerlich. 

KAREN KÖHLER Miroloi 

Der Sturm, den die Nominierung dieses Buchs im Feuilleton ausgelöst hat, war so groß, dass es mir nicht gelungen ist, ihn zu ignorieren. Die Kritker*innen halten es in der Mehrzahl für unglaublich schlecht und weil so etwas für den Buchpreis nominiert ist, sehen sie die Welt der Literatur endgültig untergehen. Hier Marlen Hobrack im Freitag über die Kriterienkrise.
Ich war also natürlich gespannt, wie das klingen würde.

1: ja

2: vielleicht

1: Ich lese schon deshalb weiter, weil ich noch nichts so furchtbar Schlechtes gefunden habe, wie ich es nach der Aufregung in den Kritiken erwartet habe. Als Leserin folge ich dem  inneren Monolog einer jungen Frau, die in einem archaischen Dorf den Berg hinaufhumpelt. Die Beschreibung der Landschaft passt zu einer griechischen Insel. Die Frau ist ein Findelkind von "drüben", gilt als hässlich und ist ein Außenseiter, und ist innerlich voller Wut. Das finde ich erst einmal interessant. Und - ja- sprachlich ist das ein bisschen holprig, diese Frau soll gleichzeit einfach und doch poetisch denken, aber es entgleist seltener als manche andere Anfänge von Büchern auf der Longlist und hat einen schönen Rhythmus.

2: Obwohl es mir bisher (Seite 5) beiweitem nicht so missfällt wie dem Gros der Kritikerinnen, drängt es mich auch nicht wirklich zum Weiterlesen. Das liegt, glaube ich, daran, dass die Protagonistin die Zustände an diesem archaischen Ort von Anfang an schrecklich findet- und nicht nur ihre persönliche Lage. Sie hat in gewisser Weise einen Blick von außen, obwohl sie den Ort ja noch nie verlassen haben soll, und dadurch ist die Geschichte zu wenig glaubwürdig um mich hineinzuziehen.


miku sophie kühmel  Kintsugi

1: ja

2: ja 

1: Sprachlich ist das schon wieder ein überinstrumentierter Text voller gesuchter Formulierungen. (Es scheint eine Trendwende zu geben, die lakonische Hemingway Sprache, die jahrzehntelang state of the art war, scheint bei den Debütant*innen passé zu sein. Schade) ABER: hier gibts eine interessante Konstellation. Zwei Männer in den Dreißigern kommen in ihrem Wochenendhaus an. Sie sind schon länger ein Paar, nett und kultiviert, aber unterschwellig gehen sie sich gegenseitig schon gehörig auf die Nerven.  Da will ich sofort wissen, wie es weitergeht.

2: Alles wie bei 1. Die Sprache immer noch überladen- dann auch noch vom Lektorat übersehene Wiederholungen- aber die Spannung zwischen den beiden Männern steigt. Zuerst ist man in den Gedanken des einen, den die minimalistische  Feng-shui Ästhetik seines Freundes schön langsam in den Wahnsinn treibt. Und gerade rechtzeitig, kurz bevor man den Feng-shuianer überhaupt nie mehr würde leiden können, wechselt man in dessen Innenperspektive, aus der natürlich alles ganz anders aussieht. Das Drama des ganz normalen Lebens- auf Seite 5 will ich immer noch wissen wies weitergeht und habe mich daran gewöhnt, die Adjektivhäufchen zu überlesen.

Hier gehts weiter zu Teil 3.

 

Freitag, 23. August 2019

Deutscher Buchpreis 2019- Leseprobenheft zur Longlist. Teil 1


 Die Longlist für den Deutschen Buchpreis ist da und es gibt wieder ein gratis Heft mit Leseproben aus den 20 nominierten Büchern. Hier gibts eine Liste der Buchhandlungen, in denen man es sich holen kann. Ich habe meins wie immer aus der Buchhandlung OCELOT in der Berliner Brunnenstraße.

Ich werde wieder die 20 Buchanfänge lesen und je zwei Kommentare abgeben:

1: Würde ich nach der ersten Seite weiterlesen? . Ich persönlich entscheide normaler Weise immer spätestens nach einer Seite.

 2: Würde (oder werde) ich nach der ganzen Leseprobe in diesem Heft weiterlesen ? Die Proben scheinen immer die tatsächlichen Buchanfänge zu sein und sind jeweils ca. 5 Seiten lang.
Falls ich schon etwas über die Bücher weiß- zB schon Kritiken gelesen habe-  werde ich versuchen, es bei der Lektüre der Anfänge zu vergessen. Nur eins der Bücher ("Herkunft" von Sasa Stanisic) habe ich schon zur Gänze gelesen- da werde ich versuchen, mich an das erste Lesen des Anfangs zu erinnern.

Ich werde spontan entscheiden, ob ich weiterlesen will und dann "in mich gehen" und kurz beschreiben, wie meine Entscheidung zustande gekommen ist.

Wenn ich alle durchhabe, werde ich meinen Tipp für die  Short-list abgeben. Über Diskutanten, Mit-  und Gegentipper in den Kommentaren würde ich mich freuen!

Ich gehe nach der Reihenfolge im Buch vor. Die ist alphabetisch.

NORA BOSSONG   Schutzzone

1: ja

2: ja

1: Der Text nimmt mich sofort für sich ein, trifft den richtigen Ton. Eine Person spricht vom Ankommen in Burundi im Jahr 2012; davon, wie unterschiedlich die Menschen das Land wahrnehmen: 
".. und die einen sahen zuerst die Schönheit der grünen Hügel, die anderen den Konvoi mit den Flüchtlingen, die zurückgeführt wurden, und keine Meldestelle hatte offen, sie wurden einfach von der Laderampe ins Nichts entlassen, und das Nichts war ebenfalls grün, und das Grün war schön, man möchte mit der Hand über die Hügel streichen, so schön sind sie, wie über die Wange eines Geliebten...".
Die Stimme vermittelt sehr eindrücklich das gleichzeitige Eintauchen in eine menschenfeindliche, chaotische Situation und in die magische Schönheit Afrikas. Indem die Erzählerin lange nur von "den einen" und "den anderen" spricht,  bevor das erste Mal ein "ich" auftaucht, zieht sie mich in die Widersprüche hinein und in die Unmöglichkeit überhaupt noch ein konsistentes Gefühl zu haben.  Wie sie mitten im Satz vom Imperfekt in die Gegenwart rutscht:  "..und das Grün war schön, man möchte mit der Hand über die Hügel streichen, so schön sind sie"- das erwischt mich sofort- ich will weiter hören, was sie erzählt. 

2: Es geht genauso an- und hineinziehend weiter: scheinbar ungeordnet bekommt man eine Menge Informationen: Burundi, sie war Teil einer UN Kommission, "damals dachten wir noch..." Menschenrechtsverletzungen, ein Tribunal, ein Abgeordneter, den sie für einen von den Guten hält, eine Frau, die ihre Hand hält und sagt: "Aber es wird ein Urteil geben?". Die Fakten erscheinen nur spärlich und diskontinuierlich im Text, dessen eigentliches Thema ihr Bewusstseinszustand zu sein scheint. Auch das gefällt mir sehr, dass ich nicht belehrt werde. Ich schaue bei Wikipedia nach, wie 2012 die Lage in Burundi war- bin angeregt und interessiert- und habe beschlossen, das Buch zu lesen.


JAN PETER BREMER  Der junge Doktorand

1: nein

2: nein

1: Der Tonfall irritiert mich. Zwar gibts Gründe für das tüddelige Biedermeiern mit den viel zu vielen Adjektiven- es ist Rollenprosa einer ältlichen Dame, aber die Dame ist nicht allein Schuld,  ich spüre den Autor, der ihr über die Schulter schaut, sich dann zu mir, der Leserin, umdreht, und möchte, dass ich über seine Figur schmunzle. Und: nein danke!  Schmunzeln will ich nicht.

2: Es bleibt auch auf den nächsten Seiten so. Es stellen sich zwar  schon eine paar Fragen, die einen zum Weiterlesen bringen könnten, wenn man sich denn für die beiden Figuren- die ältliche Dame und ihren Gatten- interessieren würde. Tu ich aber leider nicht, sie gehen mir auf die Nerven und ich verlasse sie bei nächster Gelegenheit. 

RAPHAELA EDELBAUER  Das flüssige Land

1: ja

2: nein

1: Auf der ersten Seite wird man von einer Metaphernlawine überrollt, dass einem die Hirnwindungsknie nur so schnackerln. Der oder die Erzählerin- Geschlecht noch nicht definiert (find ich gut!)- geht durch seinen Heimatort, der über einem gigantischen Hohlraum steht und dessen Gebäude immer mehr absacken. Dieses Loch ist in einem einzigen Absatz beschrieben als "wie ein unterirdisches Myzel", "ein unter der Gemeinde schwelendes Aneurysma", "ein Abyss", "ein unendliches Ausatmen des Landes, dessen Brustkorb sich bis an die Rippen senkte" (wie soll das gehen? der Brustkorb wird durch die Rippen gebildet ...) usw. Das geht also öfter schief als dass es klappt und kaum sitzt ein Bild, wird es schon vom nächsten erschlagen. Allerdings gefällt mir das Ambitionierte und die unerschrockene sprachliche Krafthuberei. Ich lese weiter um zu sehen wo das hinführt.

2: Leider geht es auf den nächsten vier Seiten so weiter- nach einem kurzen Einschub, in dem der oder die Erzählerin in der Apotheke große Mengen Codein kauft und ich auf den Beginn einer Handlung hoffe, kehrt der Text zurück zum Metapherngeröll über Abgrund und Höhle. Jetzt wirds mir zu lang und ich will nicht mehr weiterlesen. Hätte ich das ganze Buch, würde ich allerdings nach vor blättern und schauen, ob es mich zehn Seiten weiter doch noch interessiert.