Freitag, 3. Juli 2015

Bachmannpreis 2015, erster Tag, Nora Gomringer

Zweite Lesung: Nora Gomringer

Ein fulminantes Ein-Frau- Hörspiel.

Story: Eine Autorin namens Nora Bossong betreibt Recherche für ein Buch, das „Der Gott
der verlorenen Dinge“ heißen soll. Sie klappert mit einem Recorder die Wohnungen in einem Mietshaus ab, in dem sich vor kurzem ein 13-jähriger Junge aus dem Fenster gestürzt hat. Es gibt drei Arten von Stimmen: die von Nora Bossong, die drüber nachdenkt, was sie da tut. Die der Bewohner des Hauses, die wiederum über Nora Bossong nachdenken, und in mehreren Fällen, nachdem sie bei der Tür draußen ist, daran denken, was sie ihr nicht erzählt haben. Und eine mysteriöse auktoriale Stimme, teils Erzähler, teils unaufgeklärte spirituelle Präsenz.

Vor dem Haus sitzt auf einer Schaukel ein grünes Monster- es ist der Erlkönig, der den Jungen geholt hat. Nora sieht ihn zuerst aus einem Fenster, am Ende, als sie aus dem Haus kommt, holt er sie dann schließlich auch:

„Die sonst hellsichtige Autorin bemerkt nicht, wie der Mann, der keiner ist und gleichzeitig viele, abrupt sein Schaukeln stoppt und langsam auf sie zugeht, die nichts vernimmt als eine vom Wind noch angestoßene Schaukel und die dieses Bild die absolute Verlorenheit begreifen lässt. Es wird ein kurzes Begreifen sein, das ihr der Sammler noch schenkt. 

Denn so enden alle Wesen, alle Dinge, auch die Betrachtung der Betrachtungen in den feuchten Augen eines Wesens, fremder als der Nachbar, kaum bei Tageslicht gesehen, doch keineswegs scheu. Und die einen nennen es Gott und die anderen wissen es besser.“
Nora Gomringer liest brillant, schlüpft in die verschiedenen Figuren, es ist ein großes Vergnügen ihr zuzuhören.

In der Jurydiskussion kommt wie jedes Jahr die Frage: darf sie das? Darf man hier beim Bachmannpreis so gut lesen, dass es einem womöglich einen unlauteren Vorteil gegenüber den schauspielerisch weniger begabten Konkurrenten mit ihren weniger hörspieltauglichen Texten verschafft?
(Ich komme vom Theater und finde: das darf man unbedingt! Das ist doch hier ein Vorlesewettbewerb- zum öffentlichen Vergnügen! Und natürlich sind so gut gelesene Texte Favoriten für den Publikumspreis).


Mir fehlt aber schon wieder was.

Dabei ist der Text - meta- meta- meta superhyper postmodern wie er ist- eine Freude für Rätselfreunde, wie ich es bin.

Rätsel eins: wieso heißt die Autorin im Text Nora Bossong? Das ist doch eine echte, existierende Autorin! Darf die "andere Nora" das denn? (Ich nehme an, dass Nora Gomringer Nora Bossong gefragt hat, ob es okay ist- es gibt ja Telefon). Also warum? Nur wegen der Vornamensgleichheit? Dann- vor lauter Nachdenken verpasse ich ein paar Sätze-  fällt mir die Lösung ein: die Autorin sucht nach Gott (dem Gott der verlorenen Dinge)- wo wird heute noch nach Gott gesucht: im Cern! Das Gottesteilchen heißt Higgs- BOSON!! Was für ein schöner Zufall, dass es eine Autorin gibt, die fast genauso heißt, nur das „g“ fehlt, das gibt’s dafür in „Higgs“- und dann auch noch Nora. Bei der Jurydiskussion sitze ich auf Nadeln: werden sie draufkommen? Oder kann ich anrufen und meine Super-wer-wird- Millionär-lösung durchgeben? Endlich- als vierte oder fünfte Wortmeldung kommt Juri Steiner mit der Higgs Bosong Sache. Gut!! Ich vermisse aber die Hotline, auf der ich meine Lösung hätte durchgeben und was gewinnen können…. 


meta meta: Der Text heißt "Recherche" , der text im Text : "Gott der verlorenen Dinge". Recherche + verloren = .... (usw usw)

Meta meta: der Bachmannpreis kommt vor- einerseits direkt im Text – eine der Hausbewohnerin, eine Literaturprofessorin, die die Leiche ihres Mannes unter signierten Büchern im Bett neben sich begräbt, stellt sich immer den Wecker, damit sie keine Bachmannpreislesung versäumt. Und:  Das berühmte Hörspiel (sic!) von Ingeborg Bachmann: ,“Der gute Gott (sic!) von Manhattan“ – rund um die Aufklärung eines „faits divers“ geschrieben- einem Bombenattentäter in New York.


Rätsel--- wieder Juri Steiner: "Von den Physikern wissen wir, dass sie die Antwort kennen: „The answer ist he universe but what ist he question?“ Darauf Hubert Winkels, halblaut: „42“. (Was natürlich die Antwort auf die Frage: was ist der Sinn des Lebens? aus „The hitchhikers guide tot he universe“ ist. Auf dem Dating Portal, auf dem ich mich herumtreibe, werden zig Fragen gestellt, eine davon ist „Was ist der Sinn des Lebens?“ und die Hälfte der Männer, deren „Profil“ ich mir angesehen habe, antworten „42“. – Und das passt auch wirklich gut zu der Art wie Nora Gomringer in ihren Text- postmodern- Trivialliteratur mischt- und auch den Erlkönig als Trivialliteratur benutzt.)


Das macht alles viel Spaß--- und doch und doch…. Was stört mich?

Der „arme süße Junge“ der aus dem Fenster gesprungen ist, weil er schwul war und in einer Welt von lauter mitleidlosen Monstern leben musste. Aber halt, hoppla. Wir, die Zuhörer, sollen ja keine Monster sein. Das Fallen dieses Jungen aus dem fünften Stock soll ja auch die Fallhöhe des Textes sein- und die ist dann doch hoch, wegen unseres angenommenen Mitleids mit diesem Jungen. Erst 13, mein Gott!! Und solche üblen, kalten Menschen um ihn herum! Wir sind nicht wie die! Nora Gomringer ist auch nicht „wie die“- sie geht davon aus, dass wir Mitleid empfinden werden, weil das ja „das Natürliche“ ist, das, was sie von sich kennt. Nur die Bewohner des Hauses, die kennen es nicht. Aber dadurch werden sie zu leblosen Schablonen und der Text zu einem- hochintelligenten – Kabarett, das letztlich den Zuhörer in seiner Selbstgerechtigkeit bestätigt.

Was fehlt, ist die Frage: was haben diese Menschen verloren? Das soll zwar der Inhalt der Recherche von Nora Bossong sein, aber die Figuren, die hier vorkommen, jedenfalls die meisten von ihnen, sind keine Menschen wie du und ich- sondern einfach schrecklich, sind Monster aus einer lustigen Geisterbahn. Und für die Frage des Kommunisten Brecht : „Was für eine Kälte muss über die Leute gekommen sein? Wer schlägt da so auf sie ein? Dass sie so durch und durch erkalten?“ gibt es hier keinen Aufhänger mehr.


Was mir zum Vergleich einfällt: „Eine Unbekannte aus der Seine“, Theaterstück von Ödön von Horvath. Ebenso wie in „Recherche“ ist ein unaufgeklärter Selbstmord, ein fait divers, der Auslöser der Geschichte- und das Stück recherchiert in einem Mietshaus. In den 30-er Jahren wurde die Leiche einer jungen Frau aus der Seine gefischt, sie wurde von niemandem vermisst und ihre Identität konnte nicht aufgeklärt werden. Aber jemand hat ihre Totenmaske abgenommen und sie soll so friedlich und überirdisch süß ausgesehen haben, dass Replikate dieser Maske enorm populär wurden und halb Paris welche gekauft hat. So ist Horvath drauf gestoßen- und fragt danach, warum diese Person sich wohl umgebracht hat. Das Stück spielt in einem Mietshaus, man lernt die verschiedenen Bewohner kennen, einen blinden Uhrmacher, eine Blumenhändlerin, ihren Ex- und ihren neuen Liebhaber, ein pubertierendes Gör usw. Und aus all den Geschichten setzt sich eine Welt zusammen, in die die Unbekannte nicht gepasst hat, und die sie am Ende in den Selbstmord getrieben hat. So weit ist die Geschichte sehr ähnlich (allerdings ohne Erlkönig, aber mit feuchtem Nass, dem Wasser, in das die Unbekannte geht). Aber im Gegensatz zur Geschichte von Nora Gomringer ist die von Horvath nicht postmodern- die Figuren haben ihre guten Gründe für ihre Handlungen. Zwar sind sie ebenfalls ohne Mitgefühl, aber man begreift wieso. Das sind keine Monster, sondern im Gegenteil ganz normale Menschen, und die Umstände- Armut und Wirtschaftskrise und die prekäre Rolle der Liebe in einer solchen Zeit- bringen sie dazu, so zu sein, wie sie sind. (und das Stück von Horvath ist trotzdem auch sehr lustig- wer es nicht kennt: lesen!! Ganz toll!! Hier gratis im Projekt Gutenberg)


Trotzdem: "Recherche" ist ein sehr guter Text, großartig vorgetragen-  Mein Favorit vom ersten Tag.

Bachmannpreis 2015. Erster Tag, Katerina Poladjan


Disclosure:

Wenn ich den Bachmannpreis anschaue, bin ich voller Neid. Ich würde viel lieber selbst dort lesen als zuschauen. Statt unvoreingenommen bin ich also prinzipiell eher missgünstig. Allerdings hoffe ich auch hier auf Texte, die mich begeistern und mir zeigen, was ich mir eigentlich von Literatur noch erhoffe- und mir einen Grund geben, selbst zu schreiben. Mir gefällt auch nicht NIE was. Ich war sowohl vom Siegertext 2013 von Katja Petrowskaya „Vielleicht Esther“ völlig begsistert, (und danach auch vom gleichnamigen Buch ), als auch von dem von Olga Martynova im Jahr davor. (Aber vielleicht kann ich nur Russinnen schätzen? Nein, ich war auch vom Text von Wolfgang Herrndorf hingerissen, „Diesseits des Van Allen Gürtels“ , der 2004 den Publikumspreis bekam, und habe danach alles von ihm gelesen. Dazwischen erinnere ich mich an fast nichts, aber ich erinnere mich generell fast nie an irgendetwas, wenn ich nicht darüber schreibe).



Tratsch: Diesmal natürlich spannend: wer sind die Neuen in der Jury?

Zunächst der Skandal: Daniela Strigl, die ich, wie die meisten, sehr gern mochte, hat nach dem Abgang von Burkhard Spinnen nicht den Vorsitz der Jury bekommen, wie es alle und wohl auch sie selbst, erwartet hatten, sondern Hubert Winkels wurde Vorsitzender. Daraufhin hat sie sich gleich ganz aus der Jury verabschiedet.

Wer war daran Schuld? Ich habe nirgends gelesen, wer überhaupt zuständig für die Jury ist. Wer beruft neue Juroren? Wer bestimmt den Vorsitzenden? Man liest immer ganz ausführlich, wie die Auswahl der Autoren vonstattengeht, aber nie, wie die Jury gewählt wird. Weiß das jemand?



Auf Hubert Winkels sind ja viele schlecht zu sprechen, weil er ein enormer Gschaftlhuber im Literaturbetrieb ist, überall dabei ist, wo es etwas zu sagen gibt und auch noch in einem Interview zugegeben hat, zum lesen käme er nur noch in den immer kürzeren Pausen zwischen seinen Auftritten. Tja. ... Ich mag ihn, finde seine Diskussionsbeiträge meist gut und interessant, und seine (immer ironisch angehauchte) Arroganz charmant. (Ich bin – natürlich - Feministin. Ich bin ja eine Frau, und verstehe nicht, wie irgendeine Frau nicht Anspruch auf dieselben Rechte und Chancen erheben könnte, wie sie Männer haben. Aber Männer, die in vorauseilendem Gehorsam so tun, als seien ihnen ihre Privilegien zuwider, imponieren mir deswegen noch lang nicht- im Gegenteil) (Außerdem gefällt mir die  Nase von Hubert Winkels,  wie beeindruckend schief sie aus dem Gesicht ragt, und dass die Nasenspitze ein eigenständiger Teil seiner Mimik ist und sich mitbewegt, wenn er redet. Sympathien beruhen ja zum großen Teil auf solchen physischen Details,  meist steckt da wohl nicht mehr ergründliches, frühkindliches Zeug dahinter. Ich vertraue zum Beispiel automatisch allen Leuten mit abstehenden Ohren, besonders wenn die Ränder der Ohren fransig sind, glaube ich ihnen alles, auch wider jede gegenteilige Evidenz, warum weiß ich nicht…. )






Russin, sie müsste mir also gefallen. Tut sie auch, tatsächlich haben alle diese Russinnen (oder jedenfalls die, die beim Bachmannpreis lesen) einen melancholischen Humor, der mich an den Wiener Tonfall vom Anfang des vorigen Jahrhunderts erinnert. Tschechow und Schnitzler haben viel gemeinsam, dieser leichte Ton, die Auslassungen, Schlittschuhlaufen auf dünnem Eis. Auch Katharina Poladjan sucht beim Schreiben nach Leichtigkeit, es ist aber moderner bei ihr, Film noir, cool, bloß nichts aussprechen. (Man merkt: sie schriebe gern wie Jazz- und tatsächlich kriegt sie in der Diskussion den Vergleich mit Miles Davis).

Ich habe sie schon vor zwei Monaten in Berlin beim Wettlesen für den Döblinpreis aus demselben Roman lesen hören. (Den Preis hat dann Natscha Wodin gewonnen, deren Stil ich überhaupt nicht mag, ich mag also doch nicht ALLE Russinnen)- und da hat K.P. einen Text vom Anfang des Buches gelesen. Das ist gut für mich, dadurch kenne ich die Figuren schon, heute hat sie nämlich einen späteren Abschnitt vorgelesen, und in der Diskussion fanden einige, der Text sei überladen, weil sie so viel auf einmal über die Figuren aufnehmen mussten- insofern war die Auswahl dieser späteren Stelle  vielleicht nicht ideal.



Die Figuren- und die Story:  Anna, eine Frau in mittleren Jahren, ist in Trauer um ihren vor ein paar Monaten verstorbenen Mann, den sie sehr geliebt hat. Sie begegnet in einem Salzburger Hotel einem Kommissar, der gerade wegen einer Konferenz in der Stadt ist - und die beiden brechen aus, aus dem, was sie tun sollten (Trauerfeier für den toten Mann bzw. Konferenz) fahren weg und verbringen die Nacht miteinander. In der Früh wacht der Kommissar auf, Anna ist weg- und zwar mitsamt seinem Auto. Erzählt wird abwechselnd aus seiner und aus ihrer Perspektive, aber beide sind auch von innen „cool“- obwohl es klar wird, dass die Nacht sehr hot war.  

Schön fand ich, dass am Morgen nach einer solchen  Nacht nicht er weg ist, wie üblich, sondern sie. Nicht nur weg, sie hat sich auch sein Auto genommen. Schön auch, dass K.P. die Situation nicht einfach umdreht, es nicht so konstruiert, als sei die spiegelbildliche Situation psychologisch für eine Frau ebenso normal, wie man sie bei einem Mann empfinden würde. Anna kann sich nicht binden, obwohl ihr der Kommissar gefällt, weil sie noch an ihrem toten Mann hängt- und findet sich dadurch in einer klassischen Konstellation in der Rolle des Mannes wieder.



Mir gefällt es also- aber ich bin auch irritiert. Ich würde mir wünschen, dass es ein Krimi wird. Den würde ich sofort lesen wollen. Ich fürchte aber, dass es kein Krimi ist, dass es außer Annas verstorbenem Ehemann keine weitere Leiche geben wird.

Warum wünsche ich mir, der Text möge zum Krimi werden? Hat wohl mit der Coolness zu tun. Es ist die klassische Coolness der desillusionierten, melancholischen Detektivromane, ist wie bei Chandler, zum Beispiel. Diese Detektive leiden an der Welt und können sich an niemanden binden, solange die Welt so schlecht ist, wie sie ist, aber sie würden darüber niemals ein Wort verlieren. Sie werden es nicht einmal denken, und falls ein Text mich in ihre inneren Monologe hineinlässt, ist da auch nur Coolness und Zynismus. Cool bedeutet: eine Menge Dinge werden nur über die Bande gespielt, aber dazu braucht es eine Bande!! Im Krimi: der Detektiv kämpft ganz ohne Belohnung drum, dass der Böse zur Strecke gebracht wird.. „nur so“. Das ist die Bande. Dadurch weiß ich, dass er sich nach einer besseren Welt sehnt- und solange es die nicht gibt, kann er nicht bürgerlich und sesshaft werden, denn die bürgerlichen Institutionen sind durch und durch korrupt (und die sogenannte Liebe ist eine von ihnen) - das ist die „große Sache“, dargestellt im Mordfall, der einem ansonsten egal sein kann.



(Gut gefallen hat mir auf dieser Linie der Polizeiruf von Christian Petzold, „Kreise“, am vorigen Sonntag. Matthias Brandt und Barbara Auer als desillusionierte mittelalterliche Kommissare. Der Film geht nur um die Liebesgeschichte zwischen den beiden- die die Frau beendet, bevor überhaupt was passiert. Beide sind total cool, nichts wird ausgesprochen, nur Stimmung- die „Bande“ über die sie spielen: die ewigen Kreise, in denen sich der Mittelstand bewegt wie eine Modelleisenbahn, und die den Mörder zum Mörder gemacht haben)



Beim Döblinpreis, wo das Publikum mitdiskutieren durfte, hat ein sehr junger, sehr ernsthafter Jüngling , offenbar ein Kämpfer für die wahre Literatur, nach der Lesung von K.P. empört in die Runde geworfen, dass ihr Text ihm „zu wenig“ sei- und das sagte er sehr wütend, - weil es da ja „um nichts GINGE!“ Das sei vielleicht gut geschrieben und unterhaltsam, aber das hier sei doch ein LITERATURpreis, und bei Literatur müsse es doch um etwas gehen, da wünsche er sich mehr. Und Katherina Poladjan sagte drauf mit einem kleinen sophisticated Lächeln, das verstehe sie, das gehe ihr auch oft so. (Fand ich bezaubernd gemacht, so klein und höflich war das, dass der junge Mann noch nicht einmal verstand, wie herablassend sie war). Ich war also auf ihrer Seite - aber auch gerührt von dem jungen Mann, der noch jung genug war, um eine hohe/ tiefe Bedeutung einzufordern. Er erwartete noch von der Literatur, dass sie ihn gefälligst retten solle aus seinem unerleuchteten Jammertal. Und vielleicht ist es das, vielleicht bin ich, obwohl keineswegs mehr so jung, insgeheim noch genauso.

So jung (und störrisch naiv) wie der junge Mann, oder so altmodisch wie meine Mutter. Sie ist 85, Akademikerin, und liebt die Oxfordkrimis mit Inspector Lewis. Als es keine neuen Folgen mehr gab, habe ich versucht, ihr „Downton Abbey“ als Ersatz schmackhaft zu machen. Bildung, der Untergang des Adels, ironische Behandlung von Klassengegensätzen- gute britische Schauspieler, hätte ja alles gepasst. Aber nach der ersten Folge war sie irritiert, nach der zweiten empört: wo ist der Mord?, fragte sie. Es gibt keinen, musste ich ihr gestehen. -Aber worum geht es dann? – Darum, wie die Leute miteinander umgehen, kleine Intrigen, Liebesgeschichten, Oberschicht versus Unterschicht, genau wie bei den Oxfordkrimis eigentlich. Sie, empört: Aber doch nicht ohne Mord! Na, das ist nix!

(Und jetzt gerade stelle ich fest: im Grunde empfinde ich das bei K.P. genau wie meine Mutter bei „Downton Abbey“- oder wie der junge Mann auf der Lesung. Mir fehlt was!- die Bande)



Aus der Jurydiskussion:

Hubert Winkels: ungefähr so: In der Geschichte werde ihm zu viel erzählt für ein bisschen Sex, das sei „literarischer Missbrauch eines One night stands“. 



Nationale Unterschiede:

Diskutiert wird, ob der Kommissar, der am Ende des Textes statt nach unten ins Tal nach oben auf den Berg fährt, und dort in ein Gewitter gerät, am Ende stirbt. (no way! Bin nicht im Entferntesten auf diese Idee gekommen)

Dazu sagt der (halb) Schweizer Juror Stefan Gmünder: wir Schweizer haben eine Bergliteratur- wenn einer in die Berge geht, dann wartet dort der Tod oder der Wahnsinn oder beides. Meistens beides.



Der neue österreichische Juror, Klaus Kastberger, mag den Text, findet ihn aber ein bisschen brav.  An manchen Stellen hätte es für ihn mehr zur Sache gehen können (ihm gefällt, dass Anne über die Pflanzen am Grab ihres Mannes zum Sohn sagt: „schau Theo, wie schön alles auf deinem Vater wächst!“ Jaha, die Österreicher! Der Satz ist mir auch gleich positiv aufgefallen!)  Darauf antwortet der Schweizer Juror, Juri Steiner : Sex lässt sich schwer beschreiben, da kann man nicht so leicht zur Sache gehen, da wird’s ein bisschen pornografisch und vielleicht ein bisschen mühsam, also ich denke, das Österreichische in Ihnen, war da vielleicht ein bisschen zu schnell, Herr Kastberger, ich als Schweizer lese den Text mehr französisch. “

Dienstag, 16. Juni 2015

Happy Bloomsday, Will Self!



Heute ist Bloomsday, der Tag an dem „Ulysses“ spielt, und was da gefeiert wird, ist gewöhnlich eine schöne Leich‘, die Leich der Moderne. Nicht so heute! Will Self hat sie kürzlich wiederbelebt, mit L-Dopa in „Umbrella“ (2012) und mit LSD in „Shark“ (2014). Wie ich das sehe, hat er damit der (europäischen) Literatur den Arsch gerettet, er hat etwas ganz Großes geschaffen. Und zwar in enger Anlehnung an Ulysses, er hat die Methode, mit der Joyce den menschlichen Geist studiert, so gut er konnte, nachgemacht – und er konnte sehr gut! Er hat sich getraut, die trüben und scheußlich verstörenden Bewusstseinsströme zu beschreiben, die sich nach allem, was im 20. Jahrhundert passiert ist, zu den Gewässern vermengen, in denen wir uns heute bewegen. Und obwohl das hässlicher und furchterregender ist, als das, was im liebenswerten Leopold Bloom vor sich geht, entsteht doch während man das liest, ein Interesse, eine Lust auf immer neue Erkenntnis über das Wesen des Menschen, und eine Ahnung von einer möglichen Freude an einer solchen Erkenntnis. Jedenfalls geht es mir so. Genauere Erklärung folgt- für heute wünsche ich Will Self von Herzen „Happy Bloomsday“!

Dienstag, 19. Mai 2015

Mad Men - What a fantastic ending!

 
It ends –or almost ends- with Don Draper sitting in a half-lotus position, doing meditation. An end that made me laugh and cry and laugh about it all again. What did the last three minutes do to you?

Over the last weeks I have tried to figure out how "Mad Men" could possibly end – without finding a good solution. Shortly before the start of the last season I attended a master class with Matthew Weiner, the creator of Mad Men, at the Berlinale Talent Campus. Of course he didn’t mention what would happen in the last seven episodes. But he said that he had wanted to satisfy the viewers. The ending should not leave them worrying for the rest of their lives about the future fate of the characters. (Matthew Weiner had been a staff writer for “The Sopranos” for several years before he got “his baby”, Mad Men, done. So somebody in the audience asked if the finale of the Sopranos was what he meant by “satisfying”. A lot concerned murmuring followed this question. After all, the very last moment had Tony Soprano sitting in a restaurant together with his family, and there maybe a bomb in the room that could go off any moment, but doesn't as long as the cameras are on, so the Soprano family stays forever suspended in the limbo, which was almost unbearable for the fans). Weiner laughed and said that he had not been part of the staff anymore when the last season of “The Sopranos” was written, so everybody could relax.)
 I had been very excited by the part of Weiners speech in which he had explained what had made “Mad Men” so personal for him and how Don Draper was his alter ego. The interviewer had been quite surprised, because Weiner comes from a wealthy Jewish family, his father is a neurologist, so what dark secret in his past could possibly connect him with Don Draper, who was the child of a whore and an abusive drunk and changed his identity to be accepted by society? Weiner explained that it had actually been his being jewish that had made him feel like he did not belong to the people around him. He also said that it would have been awkward to address this directly in a story and that he had not mentioned this before as being the inner place where the character of Don Draper came from. He thought that most people would have found that pathetic since he had been a rich an privileged kid. So he chose a completely different background for Don Draper, one that would make the viewers understand, that Don was ashamed of who he was. But Dons social alienation and all the minute reactions that came from it where based on Matthew Weiners very private experiences. And he said he was sure that is was that what made the character of Don Draper so believable. He also said that he had freed himself through writing this character. He had been severely depressed as a young man and felt that he had transferred most of this on Don Draper and was now a much happier person. I was fascinated because what he described was what I wanted also, for my writing and for my life.

After this talk I was even more eager to find out how Weiner would do it. If Don Draper was his alter ego, would he rescue him? Or would he throw him down from the roof of the building to get rid of him altogether, like the intro suggests right from the start?

Don’t go on reading if you haven’t seen the episode yet. You will deeply enjoy it, trust me, even more so if you don’t know the truly amazing punchline in advance.

During the final episodes Don had been on a journey to nowhere. He had left his job without saying good bye and was heading south. He had given everything away, first he gave Meagan a check over one million dollars for the divorce, and it was quite clear that there was not much left for him. Then he gave his car to a countryboy that had just tried to steal his money and who clearly reminded him of himself at the same age. He tried to find the waitress he had fallen in love with who had lost her child, but he never found her. In the final episode his daughter tells him on the phone that Betty, his exwife and mother of his children has lung cancer and will die soon. (Somebody HAD to get lung cancer because the very first ad that we saw Don create in the first season- "Lucky Strike- it's toasted" was invented to make people forget that studies about cigarettes creating lung cancer had just appeared. It was always clear that this pistol that lay on the table in the first act would have to kill somebody from the cast in the last act- and it is poor Betsy who got caught).When Don talks to Betsy and offers to come home and care for her and take the boys, she says that all she wants him to do is to stay out of her life for the few month she has left. She wants them to be normal for her kids and normal means without Don. After that he goes to see Stephanie to return Anna’s ring. (Anna, the last connection to his old self Dick Whitman, the widow of the real Don Draper, had died).Stephanie sees that Don has a kind of breakdown and takes him with her to a retreat at a typical esoteric place of the seventies, probably Esalen. But after a confrontation in a therapeutic group she leaves without goodbye and leaves Don without a car in the middle of nowhere surrounded by more or less ridiculous truth searchers. He calls Peggy in New York because, as he says, he realized that he never properly said good bye to her. There it becomes clear, that the deep connection between Don and Peggy many viewers have probably hoped for (I certainly have) will never happen.

From this moment on you get worried that Don might kill himself, and so is Peggy when she puts down the phone. At this point there are only, like, five minutes left. That does not seem enough for a happy ending of any kind. Although you know enough about the structure of such things to see, that this should be the last turning point and if our hero is so deep down now, that means that the end should head in the opposite direction. But how could they do that? There is nobody left who could provide Don with a meaningful happy end, there are one extras around that neither you nor Don have ever seen before. What?!! do you think, in despair, what can happen now?

A woman that leads talking groups sees Don huddled on the ground. She takes him by the hand and drags him into the group. He sinks in a chair, he is finished. The guy who is in charge says whoever wanted to share something should speak up. And you think: ok. So it comes down to a final monolog. And right: Don is about to speak. But another guy is faster, a guy you have never seen before - and now there are only three minutes left. This guy is excessively normal, middle aged, getting bold, a clerk. He says he has no big problems, except that nobody really cares for him. Not even his wife and his children. When he comes home they don’t even look up. Somehow there is nothing real between him and them. You can see that Don is shaken by what he hears. The guy tells a dream: he was stored on a shelf in the refrigerator. It was dark. Then somebody opened the door. He thought: will I be what they are looking for? Will they pick me? And then the door is closed and it gets dark again. He was not the real thing. The guy starts to sob. And Don gets up, does what you have never seen him do before: he goes without hesitation to this guy, takes him in his arms an hugs him. They are both crying.

Next thing is there is group of soul seekers sitting outside the building on the lawn; In the middle of them Don, in a fine half lotus position. Eyes closed. The leader of the meditation intones an “Ommm” and you think: that’s not possible. I know Don. He cannot stand what is going on here. And right: there is a tiny movement in his face that makes you think that he will get up and move out of all this bullshit. But then he opens his mouth and there comes a deep and beautiful “Ooommm”. And you think: they cannot do that! That cannot make him sit in this cheesy self-help surrounding, they cannot have him fold his legs to a brezel and make him sing an ommm and let that be the last thing that you will hear from him. You are on the verge of laughing, of maybe fixing you a drink for this ridiculous last moment; but you are also touched, that you feel that you will soon start to cry. And right then it happens. Don who sits there among all this pathetic but deeply human persons starts to smile, his eyes are still closed, and then an expression of pure bliss floats over his face. And you understand from a place deep inside that what you see t is what Buddhists call sudden supreme enlightenment.

And there the music starts. Cut. A group of young people and a young girl with flowers in her hair starts to sing: “-I’d like to teach the world to sing, in perfect harmony!” And you understand that this is the end, and you desperately try to form an opinion, you think: that’s impossible! Matthew Weiner can’t do that. And at the same time you start to cry for good. And because you are crying, it takes you, like, five seconds to realize that all those young singers have Coca Cola bottles in their hands. You hear the next line, that says: “I’d like to buy the world a Coke and keep it company.” And now it’s time for your sudden revelation: this expression of pure bliss you saw on Dons face appeared when the idea for the Coca Cola commercial suddenly flooded his mind; and there you burst out laughing, and it makes quite a strange sound because you are already crying and this laughter comes on top of your loud sobbing .

The tag line of the song comes up: “Its the real thing”. And it comes to you all at once: that Don Draper had been on a quest for seven seasons searching for an answer to the question, who he really was. And then there was this guy who felt the same: that he was not the real thing. And when Don took him in this arms he understood, that everybody felt that way. That everybody was looking for the real thing. So that’s what he could offer to the whole world: “the real thing” that’s how he would name Coca Cola. He had brought everything together. Like in the amazing scene at the end of season one, where he could use all his daemons about memory and longing for a family for the presentation of a commercial for the Kodak carousel slide projector.

Still crying and laughing at the same time you also get angry now because that seems so cynical. They made fun of you, they draught you into this sentimental journey, just to tell you: “look, stupid, it is not about being one with the universe, it is about advertising ; its capitalism, stupid, so it has to be about Entfremdung” . And you are very angry with Don because he used the deep anxiety of this poor guy and even his dream about the refrigerator and turned it into something, that WAS the real thing in the refrigerator, and that was the Coca Cola bottle. So, you think, he did not really connect with this guy when he took him in his arms. How vicious of them to make you believe this and then turn it around in such a cynical way. But then your feelings change again, or rather they are all there at the same time. Because you actually saw that it was real, you knew what Don felt, because the actor played it truthfully and so it was the truth for Don. It was deeply true - and he used it. And maybe that was not even a betrayal of his inner self, because it was what he does best: using the deepest truth for advertising phony products. And you feel that that is pathetic but it maybe the human condition. And you know for sure, that there was also a possibility for love; although nobody knows what that means. That's what the anonymous guy said in his fantastic and sad monologue: that nobody knew what love was, so nobody could recognize it, not even when it is right befor your eyes. But somehow those folks from Mad Men gave you a glimpse of it. That’s what you came back for every week: to see a guy that was alienated and didn’t know what love is. And you wanted him so so much to find out. And then you felt this possibility- for him, and for you, maybe- but he didn’t get it, not consciously, he used this gift from the universe for advertising, but it was there, and therefore you love him, although he was not real, only a phony character in a television show. And those writers who created this love of yours, they did it for fame and for lots of money and now it’s over, but they also created the feeling that there was the possibility for something else – for Don Draper; for you; in life in general. Because what you felt when you watched this ending, that was IT: THE REAL THING-  or wasn't it?





Dienstag, 28. April 2015

Kertész gelesen. gelacht.


Zwischenbemerkung zum Text zum Tod von Günter Grass


Während ich mich abmühe, herauszufinden, was ich denn da unbedingt noch sagen will, über Grass und darüber, was ihm in der Blechtrommel gelungen ist (nämlich, nicht nur die halbe Welt sondern auch jemanden zu erreichen, für den kein anderer Roman über die Zeit des zweiten Weltkriegs jemals irgendeine Berechtigung gehabt hat: meinen Vater)- und während ich versuche zu verstehen, woran es liegt, dass Grass später nie mehr etwas Derartiges gelungen ist, - während ich also um und um und herumdenke, lese ich einen Text von Imre Kertész aus dem „Galeerentagebuch“. Und die folgende Stelle ist so großartig, dass ich sie hier einfach komplett abschreiben muss. Ich habe laut gelacht, das gewisse Auflachen beim „Ja, genau!!“ – Erlebnis.

(Dieses „Ja, genau“, das mir bei Kunst die meiste Freude und Erkenntnis bringt, ist nicht das zufrieden rechthaberische Es-immer-schon -gewusst haben. Bei diesem "Ja genau!" hat man es vielmehr bis zu eben diesem Moment NICHT gewusst, bzw. hat es nicht formulieren können, in Worten nicht und auch nicht in sonstigen wolkigeren Gedankenformationen. Bewusst war einem in diesen Fällen nur die Frage, und auf die präsentiert sich einem mit einem Knall die absolut richtige, einzig mögliche Antwort. Merkwürdig ist dabei nur das Wissen um die Richtigkeit. Dadurch entsteht das Gefühl, die Antwort sei schon lange in einem vorhanden gewesen, und wenn man sie dann liest, stellt sich mehr noch als ein Erkennen das unabweisbare Gefühl des Wiedererkennens ein. Es ist das berühmte und geliebte Evidenzerlebnis,- man kann sein Zustandekommen auf verschiedenste Arten deuten, auf jeden Fall macht es einem aber eine Riesenfreude- und man muss laut lachen, weil es so richtig ist, was man da sieht).


Varianten des Pessimismus. – Der dogmatische Pessimist.
 
Zumeist der verirrte Kleinbürger. Dogmatischer Pessimismus mündet gewöhnlich in dogmatischem Weltverbesserertum. Der dogmatische Pessimismus als Kunst: immer Moralismus. 
Sein häufigster Gegenstand ist die Freudlosigkeit (die unangenehme, jeder Erlösung ermangelnde Beschreibung einer empörenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeit oder eines langen Todeskampfes etwa, wie bei Simone de Beauvoir, «Ein sanfter Tod»). Der moralisierende Künstler bleibt letztlich immer beim persönlichen Fall und bei der fruchtlosen Empörung.
 

Romantischer Pessimismus.
 Er weist die Welt ab, flüstert uns dabei aber seine Geheimnisse ins Ohr. Wie der Gelegenheitsschwindler erschleicht er sich unsere knausrig versteckte Sympathie. Seiner unterschwelligen Tendenz nach ist dieser Pessimismus nämlich Klage, Ergebenheit und Flehen. In den schlimmsten Formen ein verhülltes appellieren an den «nüchternen Verstand».
Dieser Appell an die triumphierende Welt findet immer Gehör. Ergebnis: ein sentimentales Sichumarmen, der Henker verzeiht dem Opfer. –


Der Moralist kann kein Künstler sein, weil er die Welt nicht schafft, sondern über sie richtet und so eine völlig überflüssige Arbeit erledigt. 

Um sich selbst zu rechtfertigen und als Entschädigung, wenn nicht gar aus Rache, zeigt er sein Opfer, den Menschen, als einen ewig moralisch Leidenden, wofür ihn dieser in der Realität natürlich kräftig auslacht. Denn in der Realität ist die Moral ein zwar unabdingbares, zugleich jedoch auch das biegsamste Element menschlichen Verhaltens, und mir ist noch kein moralischer Mensch begegnet, der nicht seine eigene moralische Wahrheit, ja Überlegenheit empfunden hätte. Nicht die Moral: die Spiele, die mit ihr getrieben werden, im Spiegel des Bewußtseins und des Lebenswillens, das ist das Interessante, vornehmlich unter den Bedingungen der totalitären Diktatur.

Montag, 20. April 2015

Zum Tod von Günter Grass 1



Manchmal stirbt jemand und dann wird einem erst bewusst, dass man noch Pläne mit diesem Menschen hatte, dass man ihm im inneren Theater in der Zukunft noch eine Rolle hätte geben wollen. Nachrufe beginnen oft mit einem erschrockenen „ Aber ich wollte doch noch….!“ John Irving hatte einen Brief von Günter Grass auf dem Schreibtisch liegen, als er von seinem Tod erfuhr, den er, so schreibt er im ersten Satz seines Nachrufes ratlos, doch noch beantworten wollte. Grass‘ Verleger schreibt, dass sie gerade mit der Feinarbeit am neuen Buch beginnen wollten, und dass doch auch die erste Lesung schon festgestanden habe, am 12.Mai! , so als wolle er Grass fragen, ob er den Termin etwa einfach vergessen habe.

Mir hat Günter Grass nichts versprochen, er kannte mich gar nicht. Aber als ich von seinem Tod hörte, wurde mir klar, dass da eine Hoffnung gewesen war, die ich allerdings nie, nicht einmal im Kopf, formuliert hatte, aber jetzt, als es keine Chance mehr darauf gab, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich gehofft hatte, Grass mit meinem Vater zusammenbringen, Grass, der gerade überallals Antisemit beschimpft wurde, mit meinem jüdischen Vater, per Post, am Telefon, aber am liebsten von Angesicht zu Angesicht, vielleicht in einem Kaffeehaus.


Es gab eine Zeit, vor etwa einem Jahr, wo ein solcher Plan nicht völlig illusorisch war. Ich hatte damals einen Lektor kennen gelernt, der  seit Neuestem die Werke von Grass betreute. Der Lektor wusste, dass ich durch ein Stipendium der Berliner Akademie der Künste drei Monate lang in dessen ehemaligem Haus in Wewelsfleth an der Elbe gewohnt hatte. So war das Gespräch gleich auf Grass gekommen. Es war die Zeit, wo alle über sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ redeten, darüber, ob es antisemitisch sei. Ich erzählte dem Lektor, dass Grass mir viel  im Kopf herumgegangen sei, als ich unter seinem Dach gewohnt habe. Und ich erzählte ihm, dass ich einen Essay über meinen Aufenthalt in Wewelsfleth geschrieben habe, in dem es Passagen gibt, die davon erzählen, wie lebendig sein Mythos als wilder Kerl immer noch ist, wie man seinen Geist in dem Haus spüren kann, und welche Fragen ich mir über ihn gestellt habe, über den wilden Schriftsteller und den Mann, der das einzige Buch über die Zeit des zweiten Weltkriegs geschrieben hat, das mein jüdischer Vater jemals akzeptiert hat. Ich sagte dem Lektor, dass ich mir vorstellen könnte, dass es einige Abschnitte in meinem Text gäbe, über die sich Grass womöglich freuen würde, was wiederum mich gefreut hätte, denn durch das viele Nachdenken über ihn empfand ich ihn von meiner Seite aus als eine Art Freund. Er aber kannte mich gar nicht und hätte es  vielleicht als Anmaßung empfunden, wenn ich ihm meinen Text geschickt hätte.  Schließlich wohnen jedes Jahr neun Stipendiaten unter seinem ehemaligen Dach und Grass wollte vermutlich nicht mit allen in persönliche Beziehung treten  (eine höfliche Postkarte zum Dank hatte ich ihm schon geschickt). Der Lektor konnte sich nach meiner Erzählung aber gut vorstellen, dass Grass sich tatsächlich freuen würde. Er  bot sich an, die Stellen vorher durchzulesen und sie dann mit einer Erklärung an Grass weiterzugeben.  Also schickte ich ihmgleich am nächsten Tag meinen Text – und wartete ab.

Im Hinterkopf hatte ich die Vorstellung, dass Grass vielleicht den ganzen Text lesen und auf die Auseinandersetzung mit meinem jüdischen Vater stoßen würde, der genau in seinem Alter war. Ich dachte, dass er Parallelen sehen würde zwischen dem zunehmenden Verstummen eines Juden aus seiner Generation und seinen eigenen Schwierigkeiten, sein Verhalten  als junger Mann im Krieg zu erklären und seinem langen Schweigen über seine Zugehörigkeit zur Waffen SS.  Er hätte etwas wie das Gegenbild  zu seinen missglückten Versuchen sich selbst zu verstehen und verstanden zu werden im Schweigen meines Vaters ahnen können.

( So ziemlich der Einzige, der öffentlich mit großem Mitgefühl sein Verständnis dafür geäußert hat, dass Grass so lange über die Mitgliedschaft bei der Waffen SS geschwiegen hat, war der Jude Ivan Nagel. Nagel hat darüber geschrieben, dass er selbst Jahrzehnte gebraucht hat, um irgendetwas über sich in dieser Zeit sagen zu können, und hat damit sein eigenes Schweigen mit dem von Grass verglichen, obwohl Grass doch auf der Seite der Täter war und Nagel ein Opfer).

Mir kam vor, dass Grass sich  bemüht hat, Abbitte zu leisten für etwas, das immer nebulöser wurde, während er es zu greifen versuchte, Abbitte bei Menschen wie meinem Vater. Dass er aber keine richtige Form dafür gefunden hat, und dass seine  Bemühungen ihm nur Verachtung oder Gleichgültigkeit eingebracht hatten, und ihm offenbar auch nicht dazu verholfen hatten, mit sich selbst ins  Reine  zu kommen, so dass er letztlich wie ein wütendes Kind,  wie ein greiser Rowdy,  bei dieser  kindischen Form des Antisemitismus angelangt war, die sagt: „Schaut her wie schrecklich böse die Juden (in Israel) sind, das muss doch gesagt werden dürfen!“

Ich hielt es fürmöglich, dass Grass spüren würde, dass mein Vater genau die Art Mensch war, zu der er eigentlich hätte sprechen wollen.  Es wäre freilich für beide  ein ungeheuer schweres Unterfangen gewesen.   Grass hätte wahrscheinlich meinem Vater gegenüber eine schwer zu definierende  Schuld empfunden,  und wer sollte über die Berechtigung eines solchen Schuldgefühls entscheiden? Mein  Vater wiederum wollte mit niemanden über diese Zeit sprechen, schon gar nicht über Schuld und Wiedergutmachungen. Aber als Grass „Die Blechtrommel“ geschrieben hatte, war es noch „aus ihm herausgestürzt“ , schneller als er es aufschreiben konnte, und es war so wahr gewesen, so lebendig, dass mein Vater es gelesen und sich wiedererkannt hatte, der jüdische Jugendliche aus Bukarest, der im selben Jahr, in dem sich Grass in Danzig freiwillig zu Wehrmacht gemeldet hat, weil er ein glühender junger Nazi war, von der Schule entfernt wurde, weil die Judengesetze in Bukarest es den jüdischen Kindern nicht mehr erlaubten auf die staatlichen Schulen zu gehen, und der während Grass den Umgang mit der Waffe erlernte, die Straßen reinigen musste, auf denen seine ehemaligen Kameraden immer noch zur Schule gingen. Sie waren, so sollte man meinen, natürliche Feinde, ihre Erlebnisse hätten unterschiedlicher nicht sein können. Aber tatsächlich war das, was sie von der Welt gesehen und nur nach und nach begriffen haben können , so ähnlich, und Grass hat es in der Blechtrommel so wahrhaftig geschildert, so unverblendet von Ideologie, obwohl er doch gerade noch durch und durch Nazi gewesen war, dass mein Vater denken konnte : Ja, genau,so war es! - und mir das Buch zum Lesen gegeben hat, als ich etwa 15 Jahre alt war. In gewisser Weise war es das Einzige, wodurch er mir etwas darüber erzählt hat, wie es ihm in der Zeit ergangen ist als er 15 war.  „Die Blechtrommel“ hat damals das, wie ich finde, Nobelste erreicht, was ein Roman leisten kann: sie hat einem Menschen-  mir- , ermöglicht, an Teilen der Erfahrung meines Vaters teilzunehmen, über den Umweg eines Dritten, des Autors.

Bei einer der ganz wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mit meinem Vater  über den Krieg, die Zeit danach, und das, was es für ihn bedeutet hat, gesprochen habe (solche Gespräche waren immer nach wenigen Minuten vorbei, wurden von ihm in einem Tonfall abgeschnitten, der mir klarmachen sollte, dass es unpassend, ungehörig, geradezu widerlich von mir sei, nach diesen Dingen überhaupt zu  fragen), bei einer dieser Gelegenheiten sagte er also sinngemäß: direkt nach dem Krieg habe man keine Zeit gehabt, über irgendetwas Grundsätzliches zu sprechen. Es sei ja alles kaputt gewesen, im Krankenhaus - er studierte Medizin- habe es kein Wasser gegeben, keinen Strom, man habe das Nötigste aufbauen müssen um zu überleben. Aber er habe erwartet, dass es später, wenn alles in halbwegs geregelte Bahnen zurückgekehrt wäre, eine große Diskussion geben werde, zwischen allen, eine Diskussion darüber, wie denn die Menschen nun miteinander weiter leben könnten, nach dem, was passiert sei. Aber diese Diskussion habe es nie gegeben, und nach einiger Zeit habe er begriffen, dass sie auch nie kommen würde, dass er sich damit werde arrangieren müssen.

Wenn ich das aufschreibe, spüre ich welche Hoffnungen er damit begraben hat. Wie viel von dem, was man sich unter einem „guten Leben“ vorstellte, damit für ihn verloren war. Das macht mich ungeheuer wütend. Auf die Welt, und auch auf ihn. Denn er hat diese Form des Sich- Arrangierens,  der Abkapselung und des permanente Misstrauen, als einzig mögliche Überlebensform auch für mich zementiert.

Aber als Grass „Die Blechtommel“ geschrieben und mein Vater sie gelesen hat, und auch noch ein paar Jahre später, als mein Vater sie mir zum Lesen gegeben hat, war dieses Gespräch noch im Bereich des Möglichen. Ich weiß nicht, wie das jahrzehntelange Schweigen für meinen Vater war, ich weiß nur, dass seine Lebensfreude verschwunden ist, für mich war es eine Qual. Und es ist offensichtlich, dass es Grass keine Ruhe gelassen hat, wie er sich von dem wilden, widersprüchlichen und um Wahrhaftigkeit bemühten Autor  der Blechtrommel zum „Gewissen der Nation“ gewandelt hat, ohne sich doch selbst besser verstanden zu haben.  Während mein Vater geschwiegen hat, hat Grass zunehmend jene Sprache verloren, mit der er der Wahrheit über sich und über die Zeit des Krieges hätte näher kommen können. Wieso?

Samstag, 4. April 2015

Will Self Über Satire



Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo hat BBC 4 den Autor Will Self um eine Stellungnahme zur aktuellen Rolle der Satire in der Gesellschaft gebeten. Sie hatten von ihm, dem berühmten Satiriker, eine flammende Rede darüber erwartet, dass der Satire alles erlaubt sein müsse, aber er kommt zu einem ganz anderen Ergebnis:


 
Will Self ist einer meiner beiden Leib- und Magenautoren, wenn es um Literatur über Psychiatrie/Psychosen / Drogen/Bewusstsein geht (der andere ist Rainald Götz). Seine Bücher aus den 80-er Jahren sind  allerschwärzeste Satiren, bösartig, mörderisch überdreht, ekelhaft und enorm lustig. Obwohl Self damals oft als britischer Gegenpart zu Bret Easton Ellis bezeichnet wurde, und obwohl seine Texte ebenso drastisch waren wie die von Ellis, wirkten sie auf mich ganz anders, komplex, zärtlich, verzweifelt, und zutiefst dem Glauben an eine bessere Welt verpflichtet. Durch „DieQuantitätstheorie des Irrsins“ von Will Self (und durch „Irre“ von Götz) verstand ich, was ich selbst in der Psychiatrie empfunden hatte, er holte es aus allen Teilen meines Gehirns, machte eine Erzählung daraus, formulierte es für mich. Er erzeugt diesen wunderbaren „Ja, genau! “ Effekt, ich erfuhr, dass ich nicht allein war und auch, dass Literatur das bewirken konnte. In seinen beiden neuen Romanen „Umbrella“ und „Shark“ kehrt Will Self zu einer  Figur aus der Quantitätstheorie des Irrsinns, dem Psychiater Zack Busner, zurück, aber sein Stil hat sich völlig gewandelt. Wo früher bösartige Groteske war, taucht man jetzt tief in die Psyche der einzelnen Personen, ihre Gedankenströme sind kunstvoll ineinander verflochten- deutlich nach dem Vorbild von Joyce- jede Satire ist verschwunden.  Die Wandlung ist verblüffend, als habe Self sich gesagt: „now to something completely different“ (übrigens mit stupendem Erfolg, ich werde alle drei Bücher, das alte und die beiden neuen demnächst hier besprechen).  
Ich dachte beim Lesen von „Umbrella“ , vielleicht sei es einfach eine Frage des Alters, vielleicht bleibe keiner ein Leben lang bissiger Satiriker. Lustiger Weise nennt  Self in seinem Radiobeitrag als erstes denselben Verdacht.  Ihm fällt auf, dass er als Satiriker zu den Vorfällen befragt wird, seine beiden letzten Bücher aber überhaupt keine Satiren mehr sind.  Er ist besorgt, ob er womöglich wie so viele alternde Komiker nun endlich ernst genommen werden möchte. Aber dann kommt er zu einem anderen Ergebnis. Er fragt sich, wann Satire die richtige Form ist. Wann ist es für ihn in Ordnung, sich über etwas lustig zu machen?  Und er nennt die Regel, an die er sich bei Satire immer gehalten hat:  
 „It should comfort the afflicted and afflict the comfortable“.
Es sollte die Gequälten trösten und die Satten quälen“. Vor jeder Veröffentlichung eines Textes hat er sich gefragt: Wen tröstet er? Wen quält er?

Will Self kommt zu dem sehr einleuchtenden Schluss, dass es für Satire einen gemeinsamen Wertebezugsrahmen geben muss, sonst funktioniert sie nicht. Satire kann die Scheinheiligkeit der Mächtigen dem Gelächter preisgeben, sie kann die, die sich allzu bequem in ihrer Moral eingerichtet haben, quälen. Das hat aber zur Voraussetzung, dass die Mächtigen, um die es geht, zumindest vorgeben, an dieselben Werte zu glauben wie diejenigen, die sie mit Hilfe ebendieser  Moral  gefügig halten wollen. Andererseits kann Satire auch „systemerhaltend“ sein, indem sie zeigt, dass sich niemand wirklich hundertprozentig an die Regeln hält, dass nichts so heiß gegessen wie gekocht wird, sie kann die Gequälten trösten, indem sie zeigt, dass wir alle unsere Schwächen haben.

Wie verhält sich das mit Witzen oder Satire über Religion? Eigentlich funktioniert das immer nur innerhalb einer Religionsgemeinschaft. Zum Beispiel gibt es innerhalb der jüdischen Gemeinden viele Witze, die sich damit beschäftigen, wie die Regeln, was man am Schabbes alles nicht tun darf- nicht mehr als soundso viele Schritte gehen, keine technischen Geräte bedienen etc.- mit listigen Tricks umgangen werden können. Der klassische Witz dazu geht so:  Drei Männer streiten sich, welches Dorf  den großartigsten Wunderrabbi hat. Der erste sagt: „Unser Rabbi kann tun Wunder wie  Moses! Neulich is a Jüngelach hinausgefahren mit dem Boot auf den See. Plötzlich kippt das Boot um, das Jüngelach fallt ins Wasser und hätt gemusst ertrinken. Alles steht und schaut, aber keiner kann schwimmen. Da hat unser Rabbi gehoben die Hand, links war Wasser, rechts war Wasser und in der Mitte ist der Rabbi gegangen und hat gerettet das Jüngelach.“ „Das ist noch gar nichts“, sagt der zweite, „bei uns im Dorf war a schreckliches Feuer. A ganzes Haus hat gebrannt und ganz oben unter dem Dach eine Frau mit ihrem Kind. Da hat unser Rabbi gehoben die Hand, links war Feuer, rechts war Feuer, in der Mitte hat sich geöfffnet ein Gang, und der Rabbi ist hinauf und hat gerettet die Mutter und das Kind.“ Sagt der dritte: „Peanuts! Bei uns war das ganze Dorf in Gefahr. Es hat sollen geben ein Prozess und wenn der Rabbi nicht hätte rechtzeitig vor Gericht vorsprechen könne, wäre es mit uns allen aus gewesen. Aber das Gericht war meilenweit weg in der nächsten Stadt und es war Schabbes- wie hätte er hinkommen sollen? Wir waren verzweifelt, haben gedacht, es ist alles aus. Da hat der Rabbi gehoben die Hand- und was soll ich euch sagen? Links war Schabbes, rechts war Schabbes- und in der Mitte ist gefahren der Zug!“    Dieser Witz ist zu einer stehenden Redewendung geworden,  immer wenn man sich aus den Schabbesregeln herauswinden möchte. Das heißt man lacht darüber, wie man sich die Regeln zurecht biegt, das Lachen ermöglicht es, zu sagen: wir alle nehmen es nicht ganz so streng mit den Regeln, wir sind aber deshalb noch keine schlechten Menschen, wir werden einander auch nicht gleich aus der Gemeinschaft hinauswerfen, wir sind alle schwach , aber wir lachen darüber. Das ist das Systemerhaltende an diesen Witzen. Das funktioniert natürlich nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Es funktioniert nicht, wenn derjenige, der den Witz erzählt, und der, der ihn hört, nicht den selben Bezugsrahmen haben.  Wenn der, der ihn hört, gar nicht weiß, was am Schabbes alles verboten ist, versteht er nicht, worin der Witz liegt. Wenn sich aber zwei Nichtjuden diesen Witz erzählen, dann vielleicht um drüber zu lachen, dass Juden Menschen sind, die ihre eigenen Regeln mit gefinkelten Tricks umgehen. Und womöglich sind das zwei selbstgerechte Menschen, die denken: wir halten unsere Regeln ein, aber Juden tun das nicht. Dann bedeutet dieser Witz nicht mehr: wir sind doch alle schwach, sondern: Juden beugen Regeln zu ihrem eigenen Vorteil, sind schlechtere Menschen als wir und das ist es worüber wir lachen. Auf einmal ist das keine tröstliche Satire mehr sondern Antisemitismus. Es ist derselbe Witz, aber ohne gemeinsamen Kontext wird er offensiv

Es gibt auch Religionswitze, die so gehen: Treffen sich ein Rabbi, ein Priester und ein Imam an einem heißen Tag an einem See, aber sie haben keine Badehose dabei… Oder so: Ein Jude, ein Christ und Atheist stehen an der Himmelstür und wollen hinein…. Es folgen Geschichten darüber, wie sich jeder von den Dreien auf seine jeweils eigene  Art aus dem  Dilemma herauswurschtelt. Diese Art von Witzen hat ebenfalls einen gemeinsamen Kontext, der in etwa lautet: wir haben alle irgendein System aus ethischen Regeln. Wir alle befolgen einen Teil dieser Regeln, wir alle haben aber auch unsere Mittel und Tricks um sie zu beugen. Wir haben zwar nicht alle dieselbe Religion, aber wir sind uns insofern ähnlich, als wir alle ein Moralsystem haben,  das, wenn es nicht selbst eine Religion ist, so doch aus einer abgeleitet ist.  Und  während wie uns im Großen und Ganzen daran halten, begehen wir doch alle unsere kleinen Sünden.  So kann es auch bei Angehörigen verschiedener Religionen einen gemeinsamen Raum geben, in dem man lachen kann. Der muss aber hergestellt werden und jeder, der an ihm teilhat, muss bereit sein, als erstes die Schwächen der eigenen Gruppe der Lächerlichkeit preiszugeben. Das ist nur möglich, wenn zwischen den Gruppen politisch und ökonomisch einigermaßen Frieden herrscht.

Will Self meint, dass es diesen gemeinsamen Raum in Frankreich oder auch bei ihm in England zur Zeit nicht gibt. Die Karikaturen in Charlie Hebdo seien von den Falschen für die Falschen gemacht gewesen, hätten nicht die Mächtigen beunruhigt und die Schwachen getröstet. 

Ich hatte mir über das alles noch keine Gedanken gemacht. Ich habe seit einiger Zeit versucht, mir den ironischen Stil zurück zu erobern, den ich vor langer Zeit aufgegeben hatte.  Als ich zu schreiben begann,  war der ironische Ton bei mir sozusagen Werkseinstellung.  Er funktionierte in jungen Jahren gut in Briefen, in Artikeln für die Schülerzeitung,  später auch für die Stadtzeitung und in ein paar kleinen Geschichten. Mein Stil galt als leicht und amüsant und ich schrieb mühelos und schnell (selige Zeiten waren das!). 

Bald darauf begriff ich mich dann aber als Teil der außerparlamentarischen Linken.  Und da hieß es, wer über gesellschaftliche Probleme so schreibt, dass man über sie lachen kann, verschafft jener Wut ein Ventil, die den Umsturz der Verhältnisse herbeiführen könnte. Das wollte ich nicht, und ich musste auch zugeben, dass meine Ironie tatsächlich einer fatalistischen Grundhaltung entsprang. Wenn ich den Tonfall in meinem Innere einschaltete, konnte ich mein jüdische Großmutter hören, wenn sie sagte „ No, wos soll man scho machen“, oder aber die orientalischen Händler am Wiener Naschmarkt, die mit derselben Geste, die auch meine Großmutter machte – zum Himmel gedrehte Handflächen, ein seitlich geneigter Kopf, hochgezogene Schultern- „Inschallah“ sagten, wenn ihnen eine Steige Obst hinunterfiel und am Boden zerplatzte. Aber es sollte eben kein Schicksal sein, dass alles so blieb, wie es war, es sollte sich alles ändern, und ich gab meinen ironischen Tonfall auf. 

Nun, da es mit der Revolution nichts geworden ist und ich durchaus nicht mehr denke, dass alle Konflikte zwischen Menschen unbedingt radikal zugespitzt werden sollten, habe ich versucht, die ironische Sprache wieder einzusetzen. Aber ich merke, genau wie Will Self es beschreibt, dass mir diese Sprache nicht mehr so zur Verfügung steht wie früher. Zwar glaube ich, den Tonfall noch zu beherrschen, aber ich muss vorsichtig sein. Oft bin ich nicht mehr lustig sondern beleidigend. Rund um mich ist keine Gruppe mehr, die sich ganz selbstverständlich auf gemeinsame Wertvorstellungen beziehen würde. Aber  Witze müssen „grenzwertig“ sein, wenn sie nicht an einer Grenze balancieren, sind sie nicht lustig. Ich komme aus einer jüdischen Familie. Ich weiß, dass die allerübelsten Witze über Juden von Juden erzählt werden. Und es nicht etwa so, dass sie denken es sei ja „gar nichts dran“ – dann wären sie auch nicht lustig. Aber wenn dieselben- oder sogar  viel mildere Witze von Nichtjuden erzählt werden, dann wittern Juden schnell Antisemitismus, und wer könnte ihnen das verübeln. Christen, die intern gern alles locker nehmen, werden Atheisten gegenüber schnell „päpstlicher als der Papst“ wenn sie sich angegriffen fühlen. Und ich bin sicher, dass auch Muslime sich nicht zu jeder Zeit derart schnell beleidigt gefühlt haben wie jetzt,  wenn der Name des Propheten fiel.

 Nehmen wir die Schottenwitze- in der Hoffnung, dass kein einziger Schotte diese Zeilen liest. Schottenwitze habe nur ein einziges Thema: Schotten sind furchtbar geizig.  Auch Schotten selbst erzählen diese Witze. Und nach allem, was man hört, ist an der Sache auch was dran. Bis zu einem gewissen Grad kann man also Schotten damit aufziehen. Man kann seinen Ärger darüber, dass sie zum Beispiel zu wenig Trinkgeld geben, mit einem Witz entschärfen. Voraussetzung dafür ist eine gemeinsame Grundeinstellung, die da heißt, man soll nicht alles für sich behalten, sondern immer auch einen Teil der Allgemeinheit geben, großzügig sein, auch wenn man persönlich nichts dafür zurück bekommt.  Alle denken das,  und allen ist gleichzeitig es ein bisschen unangenehm, etwas hergeben zu müssen. Am schlimmsten ist das bei den Schotten, sagen Witze und Vorurteile, und auch die Schotten selbst. Solange man Witze darüber machen kann, und auch sagen kann: jedes Volk hat so seine Mätzchen. Schotten sind geizig, andere haben andere Fehler, - solange muss man sich eventuell deswegen nicht die Schädel einschlagen. Solche Satiren sind systemerhaltend und das System ist das des halbwegs friedlichen Zusammenlebens von Gruppen mit verschiedenen Mentalitäten. Über die kann man sich lustig machen, und eventuell muss man da auch ein bisschen verhandeln, aber man kann auch damit leben. Man muss niemanden deshalb ausschließen, verjagen oder gar umbringen. Das muss klar sein. Ohne dieses  Grundvertrauen sind Witze nicht möglich. 

Dieses Grundvertrauen ist nicht mehr da. Will Self kommt deshalb zu dem Schluss, dass Satire unter den momentanen multikulturellen Bedingungen nicht möglich ist. Allen das gemeinsame System aufzuzwingen, das die Witze erst verständlich und dann lustig macht, hält er für Kulturimperialismus. 

Was für ein Verlust.  Wie schade, diesen gewissen Stil nicht mehr benutzen zu können, der in Andeutungen spricht; den Tonfall, der davon ausgeht, dass alle, die etwas von einem lesen werden, im Grunde dasselbe denken, wünschen, verachten, ahnen wie man selbst; dass man Codes zur Verfügung hat, um sich über Unaussprechliches zu verständigen, weil man- zu einem gemeinsamen Stamm gehört.
Der Komiker Jerry Seinfeld hat neulich in einem Interview gesagt, der schönste Moment bei der Emmy Verleihung sei für ihn immer, wenn die Comedy Schreiber auf die Bühne kommen. „Du siehst diese Gnom- artigen Kretins, fast alle irgendwie missgebildet. Und du denkst dir: ja, so bin ich. Da gehöre ich dazu. Das ist mein Stamm. Wenn du fünfzig bist, willst  du nicht mehr bei den coolen Leuten sein. Du willst bei deinen Leuten sein.“
Als er das sagte „I knew: that’s me, that‘s my tribe“ hat es mir die Tränen in die Augen getrieben  vor lauter Selbstmitleid, weil ich keinen solchen Stamm habe. Und bestimmt ist es kein Zufall, dass gerade die Comedy Schreiber so etwas von sich sagen können, denn wenn sie es nicht könnten, wenn sie keine große Gruppe da draußen spüren würden, die im Grund so denkt und fühlt wie sie, dann könnten sie ihr Witze nicht machen. (Und natürlich sind das die Kulturimperialisten, ich bin froh dass mir Will Self ein so böses Schimpfwort aus den guten alten linken Tagen für sie an die Hand gegeben hat,  wenn ich schon nicht zu ihnen gehören kann.  Saure Trauben…)

Die beiden letzten Romane von Will Self sind großartig. Er hat sich sprachlich völlig neue Bereiche erschlossen, seit er nicht mehr satirisch schreibt. Vielleicht ist es immer auch eine Chance, keinen Stamm mehr zu haben, mit dem man sich über Codes austauschen kann. Denn ich spreche ja auch zu mir selbst im Kopf in demselben ironischen Ton, in dem ich früher so locker schreiben konnte; ich benutze auch mir selbst gegenüber diese Auslassungen, habe auch für mich an den „gewissen Stellen“  keine Worte. Codes sind Übereinkünfte innerhalb einer Gruppe,  gibt es die Gruppe nicht mehr,  zerbröckeln die Codes mit der Zeit. Und dann, wenn an diesen Stellen, an denen ich früher mit mir selbst witzeln konnte, endgültig  keine Verständigung mehr möglich sein wird, werde ich versuchen müssen, neue Ausdrucksformen zu finden, um wenigstens mit mir selbst zu reden.