Freitag, 11. November 2016

Leonard Cohen, † 10.11.2016

Das darf er nicht. Er darf nicht tot sein. Seine Songs sind doch, woraus meine Seele gemacht ist. Es kann nicht sein, dass er sterblich ist.

Field commander Cohen, you promised to stand guard.

Was wär ich geworden ohne ihn?  Ich kann es mir nicht vorstellen; kein Mensch. Nicht in dem Sinn, in dem die Juden sagen: das is "a Mensch" Ohne ihn wär ich nur ein Klumpen Lehm.

 Er war meine Freude. Ich habe nie verstanden, wenn manche sagen, sie hören seine Songs nur um in Traurigkeit zu baden. Mir haben sie gezeigt, wie das geht mit der Freude.
Wenn alle Versuche immer wieder scheitern, die erträumte Revolution, der Versuch zu lieben, der Versuch frei zu sein, der Versuch die Wahrheit zu erkennen; wenn man begreift, dass man all das nicht haben kann, nie haben wird – und wenn aus dieser Erkenntnis die Sehnsucht erst Recht in die Höhe schießt, wie sie es in seinen Liedern tut: das löst bei mir unbändige Freude aus. Ich spüre: das bin ich. Aus diesem Widerspruch bin ich gemacht. Und nicht nur ich bin so - so sind auch alle anderen. Alle scheitern, alle sind einsam, alle erkennen die Sinnlosigkeit, alle sind überrascht über die ewige Wiederkehr der Sehnsucht. Ich bin nicht allein mit meiner Einsamkeit. 

And even though it all went wrong
I'll stand before the Lord of song
With nothing on my tongue but Hallelujah

Ich habe gesehen, wie er selbst überrascht war, was seine Songs bewirkt haben, und wie er sich darüber gefreut hat. Das war auf dem legendären Konzert in Berlin 2008, in der monströsen O2 Halle, eines der ersten Konzerte nach seinem Wiederauftauchen aus dem Zen Kloster.
Er war da schon alt. Ich auch nicht mehr jung.  Rund um mich viele Menschen in meinem Alter, jeder auf seine Art gescheitert, alle verlegen bei dem Versuch so auszusehen, so zu sein, wie damals. Und er, Cohen, klein und weit weg, mit demselben Anzug, demselben Hut wie früher.  Am Anfang haben sich, glaube ich, alle geschämt, wie wir so dastanden, mit nackter Seele, so bedürftig. Und dann, obwohl es peinlich war, begannen die ersten ganz leise mitzusingen: I have tried in my way.  Und dann immer mehr- I have tried- aber ganz leise und sauber. Alle kannten alle Texte. Jedes Wort.
Cohen kam an die Rampe und sagte, er habe Schriftsteller werden wollten. Singen wollte er nur nebenbei, bis die Bücher Erfolg hätten. Und jetzt, vierzig Jahre später, sei er hier. Und es sei ihm nicht möglich, ganz zu erfassen, wieviel seine Songs über all die Zeit für so viele Menschen bedeutet hätten. Das war keine falsche Bescheidenheit, wie er das sagte. Man konnte spüren, dass er das ganze Ausmaß wirklich nicht in sich aufnehmen konnte, dass es zu viel war, in diesem Riesensaal, all diese Menschen, für die er den Soundtrack zu allen wichtigen Momenten ihres inneren Lebensfilms geliefert hatte. Man konnte seine Freude spüren. Ich glaube alle, wirklich alle zigtausend Menschen, die da waren, haben geweint. Danach war Pause,  die Frauen auf dem Klo waren aufgelöst, Ströme von Wimperntusche, die sie achtlos verschmierten. Und strahlende, strahlende Gesichter.
 Nach der letzten geplanten Zugabe: „It’s closing time“ nach „First we take manhatten, then we take berlin“,  ging das Konzert noch über zwei Stunden weiter und bei manchen Songs wusste man nicht, wer sie angestimmt hatte: er oder irgendwer im Saal- like a drunk in a midnight choir- das war nicht zu unterscheiden.

In den letzten Wochen habe ich das Hören seines letzten Albums immer wieder abgebrochen. Einen so direkten Kommentar zu seinem Tod wollte ich von ihm nicht hören.  Lass mich damit in Ruhe, habe ich gedacht.  Das gehört sich nicht, dass Du, dem ich das Leben meiner Seele verdanke, mich jetzt mit deinem Sterben belästigst.
Und dann spricht er auch noch direkt zu Gott. Dabei hat er nach dem Verlassen des Zen Klosters gesagt: "Some kind of relaxation overtook me since I realized I was no longer a religious seeker. And I am grateful for that." Vorbei.

A million candles burning for the love that never came
You want it darker
We kill the flame

Du willst es noch dunkler, Gott? Noch schwärzer als ein Leben lang nicht zu antworten? Dann löschen wir das Licht- dann sterbe ich eben. 

Ich wollte das nicht hören- auch noch mit seiner inzwischen schrecklich tiefen Stimme, aus der das Alter all die Höhen des „Hallelujah" herausgefiltert hat. Ich war voller Wut auf einen Gott, der sich nicht einmal davon rühren lässt- der sich ihm trotz einer so vollkommenen Hingabe nicht zeigt. Natürlich nicht zeigt, weil es ihn nicht gibt, wie wir immer schon wussten. Wie auch Cohen von Anfang an immer wusste.

Ich wollte es nicht hören, weil es mir so endgültig vorkam, so unironisch.  Als ob er wirklich gleich Sterben wollte, nachdem er dieses Letzte gesagt hatte, willentlich, wie die Indianer, die zum Sterben auf einen Berg steigen. Wie die Buddhistischen Mönche, die im Zazen sterben und deren toter Körper tagelang nicht umfällt, weil ihre Sitzhaltung so perfekt ist.
        Aber dann erschien vorige Woche ein Interviewschnipsel auf seiner Facebook Seite- da sieht man ihn verschmitzt lachen und er sagt: " I said I was ready to die, recently-  I think I was exaggerating. One is given to self-dramatization from time to time. (er lacht)  I intend to live forever."
Da war ich so froh, so getröstet. Und dann konnte ich auch die zweite, ironische Ebene in den Songzeilen hören:

All die tausend Kerzen- und nichts. Na gut, wenn Du's lieber im Dunkeln machen willst … dann löschen wir eben das Licht …

Hineni, hineni, I'm ready, my Lord.

Und dann sieht man ihn da im Finstern stehen, nachdem er all die Kerzen ausgepustet hat, mit nackiger Seele, wie er immer noch, entgegen allem, was er gerade gesagt hat, zu irgendjemandem spricht.  There's still a paradox to blame.  Immer weiter spricht, zu etwas, das er dort im Finstern, im Bett vermutet, spricht, zu was auch immer.

Wie er immer noch spricht. Und ewig sprechen wird.

Oh, my love

Samstag, 16. April 2016

"Die lächerliche Finsternis" von Wolfram Lotz- in Wien und Jena, ein Vergleich



Oben aus der Postmoderne wieder raus Teil 2: Jena- Wien 1:0

 

 

“Ich habe mir eine Nektarine in den Arsch stecken lassen, eine Anthologie mit isländischer Lyrik, eine Dose Katzenfutter, die Schublade eines Nachtschränkchens. Man kann viel Geld dafür bekommen, glaub mir, aber es ist nicht gut”.
In Jena ist das ein Lacher, in Wien heult Stefanie Reinperger an dieser Stelle so, dass es einem schier das Herz zerreißt. Dafür sind in Wien Oberfeldwebel Pellner und sein Gefreiter Dorsch grobe Karikaturen, während in Jena das Scheitern der Freundschaft zwischen diesen beiden zu Tränen rühren kann. Die beiden Aufführungen machen eigentlich an fast jeder Stelle alles genau umgekehrt. Deshalb ist es so spannend sie zu vergleichen. Man sieht „Die lächerliche Finsternis“ aus zwei ganz verschiedenen Blickwinkeln- und wie bei einem kubistischen Bild kriegt man dadurch erst richtig mit, was man vor sich hat- was für ein großartiges Stück (meine Besprechung ist hier).
Wolfram Lotz wollte mit seinem Stück „oben aus der Postmoderne“ wieder heraus. Die Wiener Aufführung hat ein paar Tentakel, die er da mutig aus dem Episch-Ironischen hat herauswachsen lassen, wieder in postmoderne Schubladen gestopft. Im Wiener Burgtheater hat der Regisseur Dusan Parizek alle Männerrollen mit Frauen besetzt, und die „schöne Distanz“, die die Aufführung dadurch dazugewonnen hat, wurde sehr gelobt. Bei Jan Langenheim in Jena werden die beiden machistischen Bundeswehrsoldaten (und auch sonst alle Männer bis auf einen) von Männern gespielt. Und wirklich: da ist keine  Distanz- Niederkirchner und Zera gelingt es, Mitgefühl für ihre mehr als dubiosen Charaktere zu wecken, und das mit dem uralten Mittel der Identifikation. Das ist allerdings im postmodernen Kontext verpönt, ebenso wie die stringente, spannende Story zwischen den beiden, die Lotz sich da einfach zu erzählen traut, und die die Wiener mit Fremdtexten torpediert haben. Schon allein deshalb sollte man die Jenaer Aufführung anschauen.

Lotz und Brecht

Lotz sagt, er sieht sich in der Tradition von Brecht, will aber auf das Mittel der Identifikation nicht verzichten. Brecht ging es um Veränderbarkeit. „Glotzt nicht so romantisch“ hat er plakatiert, weil er nicht wollte, dass seine Zuschauer in einer Illusion gefangen blieben. Sie sollten das große Ganze sehen, das System, und auch, dass es nicht Gott gegeben sondern veränderbar wäre. Er wollte den Zuschauern nicht erlauben, dass sie sich wie im Kino wohlig zurücklehnen und für zwei Stunden in etwas eintauchen könnten, was sie für die Wirklichkeit hielten. Deshalb traten seine Schauspieler immer wieder aus ihren Rollen heraus und gaben Kommentare ab- damit auch die Zuschauer drüber nachdenken konnten, ob das, was sie da sahen unter anderen Umständen auch anders laufen könnte. 
                        Die Postmoderne hat das zu einem Gesetz erhoben. Immer öfter nennen sich Schauspieler bei ihrem echten Namen und sagen zum Publikum " Vergessen Sie nicht, dass ich der Schauspieler Max Mustermann bin und nicht etwa Hamlet oder ein somalischer Pirat. Dabei wird dieses Ausstellen der Distanz oft wichtiger als die Sache selbst. Wovon aber eigentlich Distanz gehalten werden soll- nämlich von einer Geschichte, die doch dem Publikum nahe gehen müsste,  geht inzwischen oft unter. 

  Ein schönes Beispiel wie man als Schauspieler ganz beiläufig beides sein kann: die Figur und man selbst aus Schauspieler- und dann auch noch diese verwirrende Doppelrolle mit dem Zuschauer teilen kann, liefert Maciej Zera in der Jenaer Aufführung. 

                  In seiner Rolle als Gefreiter Dorsch fährt er mit seinem Vorgesetzen auf einem Boot durch den Dschungel ins Herz der Finsternis. Irgendwann pinkelt er vom Boot aus in den Fluß. Das spielt Zera so, wie es jetzt im Theater immer gemacht wird: mit einer Wasserflasche, die er sich gut sichtbar zwischen die Beine klemmt und dann klares Wasser rauslaufen lässt. Im altmodischen Illusiontheater wurden früher immer Mechanismen gebaut, die es möglichst echt aussehen ließen, wenn eine Figur bluten, pinkeln, sich erbrechen sollte. Da gab es, versteckt ins Kostüm, eingenähte Plastikbeutel und gefinkelte kleine Pumpen, mit denen die Schauspieler im entscheidenden Moment plötzlich Flüssigkeit aus sich heraussrinnen lassen konnten. Das waren kleine Zaubertricks, die die Zuschauer in ihrem Glauben an die Echtheit der Bühnensituation bestärken sollten. 
                     Im postdramatischen Theater ist das verpönt-  Zuschauer*innen sollen immer genau sehen können, wie etwas gemacht wird. Daher gilt es jetzt als "State of the art" große Flaschen mit Theaterblut auf die Bühne zu stellen. Wird eine Figur verwundet, dann holt sich der Schauspieler so eine Flasche und übergießt sich mit dem Theaterblut. Anfangs spielten die Schauspieler trotzdem das Verwundetwerden noch genauso realistisch wie zur Zeit der verborgenen Blutbeutel. Das war die ersten Male sehr beeindruckend. 
                        Inzwischen ist aber auch das oft nicht mehr postmodern genug. Man sieht Schauspieler*innen, die sich überhaupt keine Mühe mehr geben die Situation darzustellen sondern nur noch ganz sachlich Flüssigkeit aus eine Flasche schütten - und das ist dann allen egal- ihnen und dem Publikum. 

Bei Zeja gibts da eine kleine Etude zu sehen- sie dauert weniger als eine Minute und hat doch viele Ebenen. Er holt sich- als Schauspieler- die Flasche und klemmt sie sich zwischen die Beine. Dann spielt er -als Dorsch-, dass er vom Bootsrand pinkelt- sehr realistisch, soweit das eben mit der Flasche geht. Kurz darauf geht er -als Schauspieler- über die Bühne zur nächsten Szene. Die Wasserflasche hat er immer noch in der Hand und nimmt, scheinbar ohne nachzudenken, einen Schluck. Klar: ein durstiger Schauspieler zwischen zwei Auftritten. Kaum hat er das Wasser im Mund, spuckt er es angewidert wieder aus. Jeder versteht wieso: iiihhh!! es schmeckt nach Pisse! Er hat sich so gut in die Pinkelszene eingefühlt, dass er selbst alles geglaubt hat, auch, dass die Flüssigkeit, die da zwischen seinen Beinen herausrinnt, Pisse ist. Er hat getan, was ein klassischer Schauspieler tut: hat an die Handlungen, die er als Figur ausführt, geglaubt und damit das Publikum dazu gebracht, sie ebenfalls zu glauben. 
Momente später wird das postmodern ironisiert: ist nicht echt, Leute! Ist nur eine Wasserflasche! Aber weil er als Schauspieler nicht weiter drüber nachdenkt, im Kopf schon ganz woanders ist- hat sich in seiner Phantasie die Flüssigkeit noch nicht zurückverwandelt. Ein Teil von ihm ist Zeja, der aus einer normalen Wasserflasche trinkt, ein anderer Teil ist noch Dorsch. Weil aber beide Teile nur einen gemeinsamen Körper haben, schmeckt jetzt das Wasser für Zeja nach Pisse und er spuckt es erschrocken aus. (Und wenn man drüber nachdenkt gibt es hier sogar noch einen Dritten, der in dem Moment sowohl Dorsch als auch Zeja spielt). 
                                    Das ist nur eine winzige Scherzszene am Rand- aber in ihr sind der postmoderne und der alte Ansatz, der alles echt erscheinen lassen will, vereint. Und sie hält die Zuschauer für so klug und so flexibel, dass sie sie das Durcheinander im Inneren des Schauspielers mitempfinden lässt. Das ist ein wirklich schönes Beispiel, wie es Theater schaffen kann, zwischen Identifikation und Distanz zu wechseln, so schnell, dass es fast schon im selben Augenblick möglich wird- und ohne eine der beiden Haltungen völlig aufzugeben. 

Kritisches Theater,  dass zur Veränderung der Gesellschaft beitragen will, hat ein Problem.


Das Problem ist der Adressat. Brecht wollte Theater für Arbeiter machen. Das Theater sollte Zusammenhänge sichtbar machen und das Publikum dazu bringen, sich gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu wehren. Die Zuschauer sollten lernen, dass sie ein Recht auf  ihre Leidenschaften und Gefühlen hatten.Wenn man ihnen nicht erlaubte sie auszuleben, so war die Botschaft, dann deshalb, weil sie den Mächtigen nicht in den Kram passten, zum Produktionsprozess quer lagen. Die Gefühle der Arbeiter galten in jedem Fall als gut, sie würden der Motor der Rebellion sein.
                     Diese schöne Zeit der moralischen Gewissheit ist vorbei. Seit die Globalisierung real geworden ist, kann man nicht mehr leugnen, dass die meisten, die hierzulande in den Theatern sitzen im Weltmaßstab zu den Reichen und Mächtigen gehören, zu denen, die von Ausbeutung profitieren auch wenn sie es gar nicht wollen. Was jetzt? Leidenschaften zu spüren und sie auszuleben gilt meist nicht mehr als „gut“, wenn ein reicher Mächtiger es tut. Das Theater kann dem Publikum nicht mehr so einfach das Angebot machen mit den Opfern mitzuleiden- obwohl es in vielen Fällen strukturell zur Seite der Täter gehört. Das postdramatische Theater will das nicht mehr erlauben. Zuschauer sollen nicht mehr einfach sagen dürfen: „Ich bin Anne Frank“, „Ich bin eine schwarze Obdachlose auf einer Müllhalde“, „Ich bin ein Kind in einer indischen Textilfabrik“. Stattdessen sollen sie Informationen sammeln, ein schlechtes Gewissen haben, sich empören, und den Armen helfen. Leidenschaften, mit denen sie etwas für sich selbst wollen, gelten nicht mehr als gut und das Theater will sie nicht mehr für wecken.Das ist verständlich. Aber zu Herzen geht woran man leidet, wo man Schwierigkeiten hat, man fiebert mit, wenn eine Figur unerfüllten Wünschen hinterherjagt- nicht mit intellektuellen Überlegungen. Das ist ein Riesenproblem- den Theater spielt mit Gefühlen und Leidenschaften und für sie- das ist sein Wesen.

Im Fremden immer sich selbst erkennen wollen- das war einmal normal

Früher galt es als links die eigenen Abgründe zu erforschen. Man dachte man würde Sprengstoff für die Revolution ausgraben. Jetzt gilt das nicht mehr. Wenn es überhaupt noch Gefühle abzuholen gibt, dann die eines gemeinsamen Empörtseins über multinationale Konzerne oder über Menschen, die noch weniger gut sind als man selbst. Spaß ist das keiner. Und flach ist es auch. Lotz will da wieder raus. 
Zwar sagt auch Lotz, dass wir nicht einfach behaupten können, wir verstünden einen somalischen Piraten, aber er will wieder Ambivalenz zulassen. Schon Captain Marlow in Joseph Conrads "Herz der Finsternis" , der Vorlage für dieses Stück, hasste die brutale Kolonialherrschaft der Belgier in Kongo als er den Fluß hinunterfuhr. Aber er war auch der Junge, der, wie Joseph Conrad selbst, mit elf Jahren auf einen weißen Fleck auf der Landkarte gezeigt und mit leuchtenden Augen geschworen hatte: da werde ich einmal hinkommen. 

Coppola, der in "Apokalypse now" eine ähnliche Geschichte mitten im Vietnamkrieg gefilmt hat, war, wie alle an dem Film beteiligten,  ein leidenschaftlicher Kriegsgegner. Aber er war auch fasziniert vom Dschungel, und von dem was im Krieg aus der inneren Finsternis der Menschen herausbricht. Er wollte das erforschen, wollte herausfinden, was davon auch in seinem eignen Inneren  verborgen war. Heute kommt einem diese Haltung unfassbar gewagt vor. 

Mitfühlen- ja. Aber mit wem? Und mit welchen Anteilen von "Wilden" und "Fremden"?


Lotz hat geniale Monologe für die Figuren der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Kriegsopfer  geschrieben. Es sind alles Kunstfiguren, Anhaltspunkte sind die Situationen, in denen sie sich befinden, was man annehmen kann, das sie wollen: ein mildes Urteil, Asyl, aus der Armut heraus, etwas verkaufen, Sicherheit. Sie sind nicht da um „ihr Leid zu klagen“. Wenn sie es tun, dann weil sie etwas damit erreichen wollen.
Das Team der Wiener Aufführung lässt sich das einfach nicht gefallen. Sie proklamieren ihr Recht mit den Opfern zu leiden und brettern an vielen Stellen über den Text drüber, der sich dafür gar nicht eignet. Allerdings haben sie dafür eine Wunderwaffe: Stefanie Reinsperger.
Sie spielt sämtliche Opferrollen in der Wiener Aufführung: den somalischen Piraten, den Hausierer, der Frau und Kinder verloren hat, den sprechenden Papagei, der von den Gräueln des Krieges erzählt. Ihr Schmerz ist so groß und so allgemeingültig wie bei einem griechischen Klageweib. Das erreicht sie mit Körper, Haltung, Selbstbewusstsein und Unschuld eines wuchtigen Kindes. Sie kann aus dem Stand, und völlig gegen das, was der Text nahelegt, zu heulen anfangen, und man spürt dass es zutiefst echt ist. Ihr Weinen ist frei von Selbstmitleid, es ist eine Anklage gegen den Zustand der Welt. Es steht wie eine Säule im Raum, es ist ein Protest. Man fühlt, dass dieses diese Riesen Kind, das da breitbeinig steht und nichts versteckt, ein Recht darauf hat, das eigene Leid mit dem der Verdammten dieser Erde gleichzusetzen. Ihr Weinen verlangt nichts von den Zuschauer*innen, im Gegenteil, es gibt ihnen die Erlaubnis auch zu weinen, wenn sie es wollen
Das ist ein ganz anderes Erlebnis als in den schrecklichen Stücken, in denen echte Flüchtlinge auf die Bühne gestellt und aufgefordert werden, möglichst ergreifend von ihrem  Schicksal zu erzählen. Natürlich erhoffen sich diese Leute Hilfe, sie wollen nicht „ihre Erfahrungen teilen“, sie wollen Geld, eine Wohnung, eine Arbeit und deshalb überwinden sie notgedrungen ihre Scham. Aber unten im Zuschauerraum sitzen Hunderte, von denen sie nichts kriegen, nur angestarrt werden. Das ist widerlich. Stefanie Reinsperger will nichts, es ist Theater, sie wird dafür  bezahlt. Deshalb kann man sich tatsächlich mit diesem abstrakten Leid identifizieren, kann mitleiden, „gut“ sein. Drei mal drei Minuten Katharsis- bei jedem Opfer eine. Sie hat in allem eine herrliche Kraft und Entschiedenheit. Sie spielt auch als Einzige nicht, dass sie ein Mann sei. Sie ist einfach die, die sie ist. Die, die die Situation als Schrecken erlebt und das mit voller Wucht auf die Bühne bringt. Sie ist dafür zurecht sowohl als Schauspielerin des Jahres als auch als beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet worden. 
Trotzdem geht bei den Texten auf die Art viel verloren. In Jena weint der somalische Pirat (Benjamin Mährlein) nicht. Er sieht aus wie Johnny Depp. Und das führt gleich in die eigene Finsternis. Warum wollen wir überhaupt wissen, was diesen Piraten getrieben hat? Ist es für uns nur eine moralische Pflicht? Weil er vor einem deutschen Gericht steht, sollten wir uns informieren? Aber sind wir nicht von Piraten fasziniert? Haben alle Teile von „Pirates oft the carribean“ gesehen? Bewundern wir so einen nicht auch für sein Outlaw Dasein? Und ist das nicht verrückt was er von seinem Kumpel erzählt, der sich für Geld Bände mit isländischer Lyrik in den Arsch stecken lässt? Sicher, da muss sich einer prostituieren und es ist entsetzlich und damit ist alles klar. Aber es ist auch absurd, und es sind herrliche Bilder dafür wie absurd einem eine fremde sexuelle Präferenz vorkommen kann, die man nicht teilt. Und ist außer dem einen Entsetzlichen nicht noch viel Anderes Unklares da drin? Ist es nicht traurig, dass es Menschen gibt, die dafür zahlen müssen, dass sie das mit der isländischen Lyrik machen dürfen? Ist das nicht eine furchtbare Einsamkeit? Und ist das nicht vielleicht etwas, das gar keinen Schuldigen kennt? Über all das wird in Jena nicht hinweggeweint. 
Aber der größte Unterschied zwischen den Aufführungen ist die zentrale Geschichte zwischen Pellner und Dorsch. Lotz war ja selbst empört über die Verurteilung eines somalischen Piraten durch ein deutsches Gericht. Aber dann hat er sich gesagt: wenn es anständig sein soll, dann muss es um mich gehen. Und ihm ist „Die Reise ins Herz der Finsternis“ eingefallen- auch Joseph Conrad war zerrissen von seinem Widerwillen gegen die Kolonialherren und  seiner Sehnsucht, in der Wildnis etwas über sich selbst herauszufinden. Ohne die Angst-Lust vor fremden Ländern und vor den „Wilden“ lässt sich so eine Reise nicht beschreiben, und auch nicht die humanitären Einsätze unseres Militärs. Pellner ist unser Alter Ego, er hat den Auftrag, Gutes zu tun, und ist ein postkolonialer Rassist und Sexist, - und seine Ängste schauen ihn  aus dem  Dschungel heraus an.

Catrin Striebeck als Pellner

Catrin Striebeck parodiert diesen verklemmten, paranoiden Macho nach allen Regeln der Kunst. Aber die Gefühle, die sie vermittelt, haben nichts mit ihm zu tun, es sind Kommentare der Frau, die solche Gestalten kennt und unter ihnen zu leiden hatte. Sie verachtet diesen Pellner, entlarvt ihn als mickriges Würstchen, serviert seine testosterongeschwellten Gesten mit demonstrativem Widerwillen. Das ist Kabarett-  böse, gut gemacht, aber oberflächlich. Hier wird nicht gegen die Gebote der Postmoderne verstoßen: bestimmt wird niemand der Illusion verfallen, das sei ein echter Mensch; niemand wird sich identifizieren- aber was man sieht, ist eben auch nur ein Klischee.

Ilja Niederkirchner ist Pellner

Ilja Niederkirchner hingegen hat die Teile, aus denen er seinen mindestens ebenso lächerlichen Pellner zusammensetzt, aus der Tiefe seiner eigenen Männerfinsternis, Blödigkeit und Not heraufgeholt.
Auch er spielt bei Leibe keine naturalistische Figur. Die Filmvorbilder sind deutlich zu sehen und wunderbarer Weise traut er sich, sich so zu bewegen, so zu sprechen, wie man es nur von den allerschamlosesten Schauspielern kennt- oder eben aus der Wirklichkeit, die sich auch oft weder um Dezenz noch um Wahrscheinlichkeit schert. Aber wenn er den zähnefletschenden, augenrollenden Jack Nicholson imitiert, dann passiert bei ihm etwas ganz Anderes als beim Striebeck’schen Macho. Bei den Faxen, die Niederkirchner macht, gerät etwas tief in ihm in Schwingung und dagegen bäumen sich furchtbare Gegenkräfte auf. Das ist “authentisch”, stimmt in ihm zusammen, und steckt deshalb die Zuschauer an. Die grauenhafte Mischung aus Wollen und Hemmung und dem Selbsthass, mit dem er im Sekundentakt auf alle Impulse draufhauen muss, fährt einem beim Zuschauen auch in die eigenen Glieder. Ein Zauber, der einen von diesem Joch der Zivilisation befreien könnte, den hat ein Capitain Marlow sich im Herzen der Finsternis erhofft- der Gedanke daran beutelt auch einen Pellner mit Angst-Lust.

In der Wiener Vorstellung kann man sich als guter Mensch fühlen, in Jena nicht

Hier kann also die “Typbesetzung” etwas, was der postmoderne Geschlechtertausch nicht zustande bringt. Der Wiener Pellner von Catrin Striebeck ist eine Witzfigur, und er ist böse. Wer im Publikum sitzt, kann sich selbst ungestört weiter für einen durch und durch guten Menschen halten, denn mit diesem Pellner ist keiner verwandt. 
In Jena hat das Publikum es nicht so leicht. Hier ist Pellner Unterdrückter und Unterdrücker in einem. Mit ihm vergleicht man sich fast zwangsläufig. Ja, er ist schrecklich, aber was er in seinem bornierten Exotismus von sich gibt, wird fast jeder auch schon einmal gedacht haben: ob die „Wilden“ nicht glücklicher sind; ob man nicht etwas verloren hat- nein: ob es einem nicht weggenommen wurde, - das das Leben lebenswerter gemacht hat. Und man spürt, was Wolfram Lotz für sich als die einzig mögliche Position bezeichnet: „Eigentlich geht es immer nur um mich.“

 Eine echte Story! 



 

Pellner fühlt sich zunehmend bedroht, eingeklemmt zwischen dem Dschungel, („die schrecklichen Wälder umgaben uns wie gewaltige schlafende Körper“) und dem immer zutraulicher werdenden Dorsch. Es entsteht eine für Pellner fast unerträgliche Nähe- er sieht Dorsch weinen. Er überlegt, dass er ihn töten könnte- „Aber warum“ fragt er sich verunsichert „sollte ich das tun?“. Dann ist Dorsch auf einmal verschwunden. Pellner gerät in Panik. Als Dorsch zurückkommt und behauptet er wäre nur mal kacken gewesen, entsteht ein Riss zwischen den beiden. Und dann finden sie im Herzen der Finsternis IHN, Deutinger, den schrecklichen wahnsinnigen Mörder, den sie gesucht haben. Und genau wie bei Conrad und Coppola ist da nichts, das Herz der Finsternis ist hohl.

Das Grauen! Das Grauen...

Bei Conrad gibt es danach noch ein Kapitel, nach der furchtbaren Wahrheit kommt noch eine gnädige Lüge. Die Frau des toten Kurtz besucht Marlow. Sie ist überzeugt, ihr Mann sei der beste Mensch der Welt gewesen und habe sie abgöttisch geliebt. Marlow verschweigt ihr alles, was er gesehen hat, und lügt, Kurtz’ letzte Worte hätten ihr, seiner Frau gegolten (während er in Wirklichkeit das berühmte „Das Grauen! Das Grauen..“ gesagt hat. Obwohl der unverbrüchliche Glaube dieser Frau an ihren Mann nicht weiter weg von der Wahrheit sein könnte, wirkt ihre Liebe, die nun für immer im Raum bleiben wird, trotzdem tröstlich. Lotz hat etwas ganz Ähnliches gemacht. Dorsch bleibt bei Deutinger zurück um ihn zu schützen. Er ist sicher, dass Pellner seinen Auftrag die Koordinaten von Deutingers Aufenthaltsort durchzugeben, damit er via Luftangriff liquidiert werden kann, nicht durchführen wird, wenn der Angriff auch Dorsch treffen müsste- so sicher wie Kurtz’ Frau sich seiner Liebe war. Und er liegt genauso falsch. Aber die letzten Worte des Stücks zeigen sein Vertrauen, das ist herzzerreißend- und auch tröstlich:
Deutinger:     Ich verstehe, dass es schwer war, nicht mit ihm zu gehen. Du hast ja auch sowas zu ihm gesagt, bevor er ging.
Dorsch           Was denn?
Deutinger:     Du hast zu ihm gesagt, dass du die Hoffnung hast, dass ihr euch immerhin erkannt habt, auch wenn du wüsstest, dass ihr keine Freunde geworden seid.
Dorsch:          Und was hat Pellner geantwortet?
Deutinger:     Ich weiß nicht. Ich glaube, er hat gesagt „Mag sein“. Oder irgendwas Ähnliches. 

In Jena kann man dieser Geschichte in allen Details folgen. Die Aufführung ist lustig und verstörend und Lotz ein Hoffnungschimmer in einem Theaterjahr, in dem überall Eindeutigkeit auf den Bühnen verlangt wird - was dann tatsächlich oft zu Heuchelei führt.