Posts mit dem Label Vater werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Vater werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 7. Juli 2015

Bachmannpreis 2015. Dana Grigorcea

Dana Grigorcea, Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit

 

Für diesen Text hat die aus Rumänien stammende Dana Grigorcea den 3-sat Preis bekommen. Auf meiner Liste war sie die Nummer eins. Es ist eine großartige Geschichte, die drei Episoden aneinanderfügt, in denen Ahnungslosigkeit zu Verrat führt. Über allem steht die Frage nach Schuld und Unschuld in einer Diktatur, und die Frage, was die Sehnsucht nach Freiheit bedeutet, wie sie sich ausdrückt und was sie mit Verrat zu tun hat.

In der ersten Episode ist Viktoria noch ein Kind und Ceausescu ist in Rumänien an der Macht. Weil wir alles nur aus der Perspektive des Kindes sehen, und dieses Kind vieles  noch nicht verstehen oder einordnen kann, hat dieser Abschnitt etwas von einem Märchen. Eine Straße, in der alle eng zusammenleben, Victoria mit ihren Eltern, Rapineu, der fesche Souffleur der Bukarester Oper und Dobrescu, der Securitate Oberst mit seiner großen Dogge.

Die große weite Welt und mit ihr die Sehnsucht nach Freiheit kommen durch den Fernseher in diese kleine Welt, Rapineu hat den einzigen Farbfernseher in der Straße, hier schauen die Kinder „Fram, der Polarbär“, wo ein Bär aus dem Zirkus ausbricht, hinaus in die weite Welt. Die Mutter schaut französische Filme, die es im Fernsehen nur in bulgarischer Synchronization gibt, die immer überlappt. In Godards „Außer Atem “ sagt Jean Seberg „Ich weiß nicht, ob ich unglücklich bin weil ich nicht frei bin, oder ob ich nicht frei bin, weil ich unglücklich bin.“

Rapineu verehrt Victorias schöne Mutter Despina,

..er sagt zu ihr „mit seiner tiefen Flüsterstimme: „Despina, Liebes, du hast unfassbar blaue Augen.“ Worauf wir losbrüllten vor Lachen. Das sollte den Sommer lang unser Hausscherz bleiben: „Despina, Liebes, du hast unfassbar blaue Augen.“  

Wir wissen nicht, ob da etwas läuft zwischen den beiden, ob das Kind lacht, weil Rapineu nicht in Frage kommt, oder weil ihm das alles doch irgendwie komisch vorkommt.
 

Auch der Securitate Oberst ist ein Verehrer, grüßt die Mutter mit „Küss die Hand, zarte Frau Despina“ und führt mit dem Kind lange ernsthaft Gespräche.

Dann wird die Mutter plötzlich schwer krank. Was es ist, weiß das Kind- und also auch der Leser - nicht. Der Arzt sagt, man könne nur abwarten. Die Mutter wird immer schwächer, und dann wünscht sie sich den Farbfernseher von Rapineu ans Krankenbett, weil sie nicht mehr aufstehen kann. Der Vater sagt : alles nur das nicht, geht dann doch mit dem Kind zu Rapineu, um den Fernseher zu holen, prügelt sich zuerst mit ihm (nun vermutet man doch, dass da was war zwischen der Mutter und dem Hausfreund und dass der Vater davon weiß. Die beiden Männer tragen den Fernseher über die Straße, das Kind muss aufpassen,dass sie keiner dabei erwischt, und begegnet Oberst Dobrescu. Um ihn abzulenken, redet es zuviel und verplappert sich. Es erzählt ihm, dass die Mutter sehr krank sei und dass sie viel Blut verloren hat. Daraufhin verspricht der Oberst, er werde sich um sie kümmern.

Im Fernsehen läuft Außer Atem 

 Und dann, als Jean-­‐Paul Belmondo wieder dabei war zu sterben, also als er zuerst den Zigaretten-­rauch aushauchte und dann lachte und mit seinem Kussmund zuckte, nuschelte er noch: „C‘est vraiment dégueulasse, das ist wirklich ekelhaft.“ 
„Was hat er gesagt?“, fragte ich, gleichzeitig mit der Studentin Patricia. „Vous êtes vraiment une dégueulasse, Sie sind wirklich ein Ekel“, antwortete ein Polizist. „Aber das war nicht richtig“, sagte Mutter empört und begann loszuheulen. „Das hat er nicht gesagt.“

Am nächsten Tag wird die Mutter abgeholt und ins Krankenhaus gebracht und flüstert dem Kind zum Abschied „Missgeburt“ zu.

Die Epoisode endet damit, dass das Kind durchs Fenster die Abfahrt des Krankenwagens beobachtet und einenHund sieht, der fast überfahren wird,

Die Zunge hing dem Hund ganz lang heraus. Ich sah, wie ein großer schwarzer Hund den gerade mit dem Leben Davongekommenen bestieg.

Dies ist ist also die Geschichte, wie Victoria, die „primär“ unschuldig ist, zur Verräterin wird, ohne es zu verstehen. Auch als Leser muss man erst einmal die Versatzstücke zusammensetzen : wieso sagt die Mutter „Missgeburt“ zur armen kleinen Victoria (so wie Belmondo „C`'est dégueulasse“ zu Patricia)? Sie hat „viel geblutet“ - war es eine Abtreibung? Dazu muss man wissen, dass Abtreibung unter Ceausescu nicht einfach verboten war, sein Ziel war es, die Bevölkerung Rumäniens zu verdreifachen, und Abtreibung war deshalb ein Staatsverrat. Den Ärzten war es verboten, Frauen zu behandeln, die nach einer Abtreibung Komplikationen bekamen. Ja, so muss es wohl sein: das Kind hat, ohne zu wissen was es tat, dem Oberst der Securitate verraten, dass die Mutter illegal abgetrieben hat. (Womöglich weil sie  von Rapineu schwanger war und nicht von ihrem Mann)- daraufhin wurde die Mutter abgeholt, ob sie jemals zurückgekommen ist, bleibt offen.

Als Dana Grigorcea die letzten Sätze liest, wo der Hund fast überfahren wird, kommen ihr die Tränen und ihre Stimme bricht für einen Moment. Man kann nicht anders als vermuten, dass es hier ein autobiographisches Moment geben muss. (Und zittert mit: schafft sie es, oder wird sie tatsächlich zu weinen anfangen, was beim Bachmannpreis unerhört wäre? Sie schafft es.) Was mit der Mutter in der Geschichte geschieht, erfährt man nicht. Ist sie gestorben? Oder ist sie mit dem Leben davongekommen und wurde „nur“ von einem großen schwarzen Hund bestiegen?

Wieder ist die Jury an den Handlungsfragen nicht so interessiert wie ich, keiner überlegt, ob die Mutter wohl überlebt hat, ob man die Sache mit dem Hund darauf einen symbolischen Hinweis gibt.  Auch über Schuld und Unschuld des Kindes wird nicht diskutiert. Stattdessen viel über die Medien, das Farbfernsehen, die Asynchronizität der bulgarischen Stimmen.

Dann gibt es ein Intermezzo, das ich rührend finde: Juri Steiner, der sonst immer alles so akkurat entschlüsselt, spricht davon, dass man hier die einzige Auflehnung im Text finde : die Mutter wehre sich gegen die falsche Übersetzung von Belmondos letzem Satz, denn, so Juri Steiner: „Belmondo sagt in Wirklichkeit „C’est déguelasse!“ und meine damit, es ist ekelhaft, dass er erschossen wurde. Dagegen wehrt sich die Mutter, denn Jean Seeberg ist unschuldig!“ Ich weiß nicht, ob das Juri Steiners Interpretation dessen ist, was die Mutter im Text meint, oder ob es das ist, was er selbst denkt. Ich glaube fast, es ist Zweiteres, ich glaube, Juri Steiner hat diesen Film gesehen und sein Leben lang gedacht, Patricia sei unschuldig! Aber leider ist sie das nicht, da bleibt keine Frage offen, das kann man nur denken, wenn man sich absichtlich Augen und Ohren zuhält, wenn sie Belmondo an die Polizei verrät. Genau das scheint Juri Steiner, der in Allen nur Gutes vermutet, getan zu haben!  Aber Belmondo, der im Gegensatz zu Juri Steiner natürlich genau weiß, was Jean Seberg getan hat, bleibt auch im Sterben cool und sagt so etwas wie „das ist widerlich“ – was beides heißen kann: Widerlich, zu sterben, oder Widerlich, was du mir angetan hast- wobei er versucht zu grinsen, und ein letztes Mal seine sexy Lippen vorflunscht. Der Skandal der falschen Übersetzung des Polizisten (übrigens auch im Französischen Original, die bulgarische Synchronisation ist ausnahmsweise unschuldig), liegt darin, dass sie nur mehr eine der beiden Interpretationsmöglichkeiten zulässt.

Die zweite Episode spielt 1992, Victoria ist ein Teenager und Ceausescu gestürzt. Trotzdem hat sich in Rumänien wenig verändert, die Seilschaften der Securitate sind nach wie vor an der Macht. Der Widerstand der Jugendlichen manifestiert sich in ihrer Liebe zu Michael Jackson.

„Damals ging kaum noch einer aus dem Haus ohne die „Dangerous“- Kassette, man trug sie bei sich, und zwar sichtbar, wie einst die Chinesen Das kleine Rote Buch während Maos Kulturrevolution.“

Und dann kommt Michael Jackson für ein Konzert nach Bukarest. Er begrüßt seine Fans vom Balkon des Palasts des Volkes aus, dem gigantomanen Monster, das Ceausescu als neue Akropolis für sich bauen ließ. 70.000 strömen dorthin um ihn zu sehen.

Dana Grigorcea beschreibt unglaublich mitreissend die Euphorie, von der alle ergriffen werden, als ein Feuerwerk losgeht: 


„Es brennt“, rief so mancher fasziniert, „er brennt jetzt alles nieder.“ Und von überall drang Sirenengeheul zu uns her. … „Michael, Michael“, riefen wir unseren Erzengel. Und als das ganze Haus des Volkes hinter Feuer und Rauch verschwand, schrie jemand: „Weg mit der Nomenklatura!“ Oder es kam einfach so über uns und alles begann zu skandieren: „Weg mit der Nomenklatura!“ „Frei-­‐heit, Frei-­‐heit!“ Und alle streckten die Arme dem Regen entgegen, mit den Fingern das Siegeszeichen formend der ein Jahr zuvor zerschlagenen Demos, nunmehr aber mit Zeigefinger und Daumen, nicht mehr das V-­‐Zeichen aus Zeige- und Mittelfinger wie bei der sogenannten Revolution, als die Nomenklatura uns mit einem riesigen, grausamen Schauspiel gelackmeiert hatte.  

Und als sich der Rauch gelegt hatte, weggewaschen vom Regen, hatten wir freie Sicht auf das, was früher einmal das Haus des Volkes gewesen war und sich jetzt in blauen Konturen zeigte – das himmlische Haus des Volkes, das Haus des ganzen Volkes Gottes!
Heal the world 
Make it a better place 
For you and for me 
And the entire human race ... 
Lichtstrahlen bündelten sich auf den Balkon des Volkshauses, wo eine kleine Gestalt stand und winkte.

Dana Grigorcea liest den Abschnitt in einem großartigen Parforceritt, sie wird schneller und schneller, und während man ihr zuhört, beschleunigt sich auch der eigene Atem, man spürt körperlich die Begeisterung der 70.000, die unmittelbar bevorstehende Erlösung. Man spürt, dieser Erzengel ist ganz speziell zu ihnen gekommen, ein Abgesandter des großen Freiheitskampfes, an dem sie jetzt teilnehmen werden, er ist gekommen sie heimzuholen in die Gemeinschaft der Aufrechten, die den Verrat nicht mehr dulden werden, weil er weiß, was sie durchgemacht haben, und nun wird es damit endgültig vorbei sein! Man ist einer von ihnen, ist bereit für die Erlösung als Michael Jackson zum Mikrophon greift:


„Hello, Budapest!“, rief Michael Jackson. „I love you!“

Mir war, als ob es aufgehört hätte zu regnen. Totenstille. Ende. 

 
Dieser Mittelteil schlägt ein wie eine Bombe. Nach dem puren Pop von Teresa Präauer, die direkt davor ihren Text „Oh Shimmy“ gelesen hat, und den vielen Texten bei diesem Bachmannpreis, die ein Meta meta meta Spiel betreiben, wird man hier plötzlich im altmodischen Identifikationsmodus in eine Menge hineingeworfen, die völlig naiv einen Popgott ernst genommen hat, und die schrecklich enttäuscht wird. Man spürt die Desillusionierung geradezu körperlich, das Herz tut einem weh.

Wer ist schuld an diesem Schmerz, an diesem Verrat, fragt man sich wieder, wie beim ersten Teil. Kann man der jugendlichen Victoria ihre Naivität vorwerfen? Wieder hat sie nichts begriffen, hat geglaubt, dass da draußen eine Welt der Freiheit ist, die auf sie wartet, die genau sie meint, und sie mit offenen Armen empfangen wird. Aber das war alles nur Betrug, die Revolution in Rumänien war Betrug, aber die Versprechungen des freien Westens, die durch Radio und Fernsehen gekommen sind, waren es genauso. Sie begreift, dass sie nicht gemeint war, dass die einzige Fähigkeit von ihr, auf die man „draußen“ gewartet hat, die der Konsumentin war. (Übrigens genau das, was Fram, dem Polarbären passiert ist, als er in die weite Welt hinausging- Victoria hätte also gewarnt sein können).

Aber es gibt noch ein zweites Kind in dieser mittleren Episode, dessen primäre Schuldlosigkeit hier zur Debatte steht: Michael Jackson, das ewige Kind, das sich als Engel stilisiert hat, das mit seiner Musik nicht nur die eigenen Kindheit heilen wollte, sondern die ganze Welt, das alle Kinder der Welt eingeladen hat, auf seiner Neverland -Ranch mit ihm Karussell zu fahren, und das auf den Balkon des Palasts des Volkes in Bukarest getreten ist, ohne zu wissen, wer all die kleinen Punkte eigentlich waren, denen es Erlösung versprochen hat. War er schuldig? Oder nicht?

Die dritte Episode spielt in der Jetztzeit. Victoria und ihr Mann begleiten zwei andere junge Paare bei einer Besichtigungstour durch den ehemaligen Palast des Volkes. Es sind Exilrumänen, einer hat in Silikon Valley Karriere gemacht und ist „todunglücklich, das traditionsreiche Osteuropa verlassen zu haben“. Seine junge Frau ist pikanter Weise die Enkelin eines ehemaligen kommunistischen Ministerpräsidenten, dessen Geld sie wohl geerbt hat. Sie begeistert sich auf eine naiv-amerikanische Art für das „riesige Haus“, es erinnert sie an eine Installation von Pippilotti Rist mit überlebensgroßen roten Sofas, „auf denen man so klein wird und unschuldig und ganz ohne Sorgen. Das vermittle einem das Gefühl, wieder Kind zu sein, ob das nicht phantastisch sei, man wolle sich gleich austoben.“

(Das ist das zweite Mal, bei dem man als Zuhörer des Bachmannpreises das Gefühl bekommt, die Texte würden sich direkt aufeinander beziehen, denn kurz davor ist Teresa Präauer mit Pippilotti Rist verglichen worden. Und nun spricht hier eine fast unerträglich naive Figur davon, wie ihr ebenjene Künstlerin ermöglicht, sich wie ein Kind zu fühlen- und beschreibt die Freude, durch POP historische Verantwortung leugnen zu können).

Diese junge Frau will unbedingt darüber diskutieren, ob das Ehepaar Ceausescu wohl vorgehabt habe, Sex in diesen riesigen Räumen zu haben. Victoria glaubt das nicht, ihr die noch unter Ceausescu aufgewachsen ist, kommt diese Art von Spekulationen sehr fremd vor, 

„Sie hätten sich doch kurz davonschleichen und schnell Sex auf der Toilette haben können, um es allen zu zeigen, insgeheim.“ 
„Ich denke nicht, dass sie allein bleiben wollten, sie hatten ja Angst vor Anschlägen.“ 
Die junge Frau ist irritiert. Sie will mir widersprechen, hat aber keine Argumente. Ob ihr Großvater noch lebt? Sie ist ein sogenanntes Nachwendekind, das keine Schuld auf sich geladen hat und dieses primäre Gefühl der Schuldlosigkeit vor sich herträgt.“

Am Ende möchte die junge Frau, dass Victoria sie am Balkon fotografiert, „sie und die Stadt“, aber:

„.. vom Balkon aus sieht man eigentlich gar nichts, nur diese Kulisse aus cremefarbenen Wohnblockreihen. Im hellblauen Dunst zeichnet sich etwas ab, das aussieht wie die Alpen von Zürich aus gesehen, über den Zürichsee hinweg. Ich drücke ab.“

In dieser dritten Episode scheint sich die Schuldfrage am klarsten beantworten zu lassen: so naiv, wie diese Person darf man nicht sein, jedenfalls dann nicht, wenn man Geld geerbt hat, das durch eben jene Gewaltherrschaft verdient worden ist, von der man nichts wissen will. Aber es bleibt irritierend. Denn die junge Frau scheint aufrichtig zu sein in ihrem Nicht-begreifen. Sie stilisiert sich selbst zu einem unschuldigen Kind. Aber genau das ist auch der Status der Untertanen in einer Diktatur: sie sind wie Kinder, halten sich alle primär für unschuldig, weil sie klein und ohnmächtig gehalten werden. Dass die Gewaltzusammenhänge aber in jede einzelne Beziehung eindringen wie ein Myzel, dass sie alle Handlungen bestimmen, und dass deswegen die Frage nach Schuld und Unschuld in einer Diktatur nicht nur schwer zu beantworten ist, sondern dass die Frage selbst etwas  primär Unfassliches hat und von Menschen, „die nicht dabei waren“ wohl kaum nachvollzogen werden kann.

Ich finde an dieser Erzählung mehrere Dinge großartig. Das eine ist, wie sie den Bogen nicht über die Handlung konstruiert, sondern über eine theoretische Frage, von der man annehmen kann, das auch die Hauptfigur sie sich stellt- und dass sie die mithilfe eines Triptychons aus Anekdoten diese Frage nicht beantwortet, sondern stattdessen ihre Dringlichkeit verschärft. Es ist kaum zu glauben, dass der Text nicht so konzipiert wurde, wie er hier steht, sondern ein Auszug aus einem Roman mit demselben Titel ist.

(Der Titel ist das einzige, an dem mich etwas stört – und zwar das „primär“, das hier als Adjektiv gebraucht wird. Ich vermute, dass eigentlich gemeint ist, dass alle Figuren, die Kinder und Pseudo-kinder, sich primär, ursprünglich, unschuldig fühlen. Aber dann, bei genauerer Überlegung, ist es doch nicht so sicher, ob sie damit Recht haben. Für diese Bedeutung müsste „primär“ aber das Adverb sein. So wie der Titel hier steht, muss es außer dem „primären Gefühl der Schuldlosigkeit“ auch ein sekundäres Gefühl der Schuldlosigkeit geben- und was sollte das sein? Aber vielleicht habe ich es nur nicht richtig verstanden- Juri Steiner, helfen Sie mir!)

Das zweite, was mir an der Erzählung so gefällt, ist, dass sie mir etwas begreifbar macht, was ich persönlich bei einem Besuch in Bukarest nicht so recht fassen konnte. Mein Familie väterlicherseits kommt aus Bukarest, sie wurden zuerst als Juden verfolgt, dann von den Kommunisten ein zweites Mal enteignet und sind Ende der 50-er Jahre emigriert. Mein Vater ist danach nie mehr in Bukarest gewesen. Vor zwei Jahren war ich das erste Mal dort, um zu sehen wo er aufgewachsen ist. Etwas so Unbegreifliches wie diese Stadt habe ich nie zuvor gesehen. Das lag vor allem an den scheinbar wahllos herausgerissenen Teilen, als sei ein Riese durchgestapft und habe überall Häuserblocks herausgerissen. Das Haus, die Straße, das Viertel in dem mein Vater aufgewachsen ist, existierten nicht nur in der Realität nicht mehr sondern auch nicht auf einem Plan- wo sie gewesen waren, waren nicht etwa andere Häuser entlang einer früheren Straßenführung, sondern ein Chaos aus monströsen Wohnblocks, die ohne irgendeine Logik in Haufen standen und dazwischen hockten kleine, völlig verwahrloste Jahrhundertwendhäuschen, leere Reste einer Vorstadtidylle (aber meine Großmutter hatte es Kleinparis genannt?) im Schatten der Moloche. Das Verrücktteste war tatsächlich der Palast des Volkes, er war (und ist) so groß, dass ich ihn
buchstäblich nicht sehen konnte, er passte nicht zu den Mustern, die Gestaltwahrnehmung erst möglich machen, mein Hirn sagte mir: was du da siehst, ist entweder Einbildung, eine Fata Morgana (und tatsächlich flimmerte das Bild in der Hitze), oder es muss viel weiter weg sein als du glaubst, nicht einen Kilometer entfernt sondern hunderte, und deine Wahrnehmung spielt dir einen Streich, das hier ist so weit weg wie die Alpen von Zürich. Ich versuchte Fotos zu machen, zu filmen, um meinem Vater zu zeigen, was aus Bukarest geworden ist, aber die Größenunterschiede waren zu extrem, es gelang mir nicht, ein Foto zu machen, das vermittelt hätte, was ich sah. Und es gab auch nirgends Ansichtskarten. Der Text von Dana Grigorcea hat mir dieses Nichtbegreifen, Nicht- beschreibenkönnen sinnlich erfahrbar gemacht.

Und das ist auch das Dritte, was mir so gefällt: ich persönlich kämpfe mit dem Problem, etwas aus meiner Vergangenheit zu erzählen, das scheinbar kaum noch zu vermitteln ist. Als gäbe es  kein Ort Echos mehr auf meine Erfahrungen. Was Dana Grigorcea da beschreibt ist so etwas Ähnliches, insbesondere im ersten Teil. Das Zusammenleben im kommunistischen Rumänien wirkt idyllisch, melancholisch, tragikomisch, (ein Problem, das ich jedesmal habe, wenn ich etwas über meine jüdische Familie schreibe, und sehe, wie die Leute ein wehmütig gerührtes Lächeln aufsetzen: pittoresk, folkloristisch, ach so bittersüß, sehe ich sie zu meinem Entsetzen denken). Was so schwer zu vermitteln ist, hängt sicher mit der Gewalt zusammen, die, solange noch nichts „passiert“ ist, auf so humoristische wirkende Weise mitten im Inneren des warmen Biotops gedeiht. Hier ist es der Oberst der Securitate mit seiner schönen Dogge, aber ich kenne dieses Gefühl auch aus vielen Beschreibungen von Freunden, die von ihrer Zeit in der DDR erzählen- und immer hat dieses enge Zusammenleben mit Spitzeln, die auch ganz menschlich sind, hat diese ständige Gefahr und Unterdrückung, mit der man auf alltäglicher Basis umgeht, auch etwas Wärmendes, der Feind liegt falls nicht im eigenen Bett dann wenigstens im eigenen Garten, und das ist nicht nur schrecklich, sondern es ist vor allem ganz anders. (Und existiert überall, wo Menschen gezwungener Maßen intim mit der Gewalt werden- ich kenne es z.B. aus dem Zusammenleben in einer Psychiatrischen Anstalt. ) Es lässt sich jemandem, der es nicht kennt, glaube ich, nicht vermitteln. Der Versuch verharmlost automatisch, oder aber er verschweigt den heimeligen, familiären Anteil der Gewalt. Was Dana Grigorcea hier aber gelingt, ist zu erzählen, auf welche Art sie selbst nicht verstanden hat, als Kind, als Jugendliche, und wie sie sich später nicht mehr verständlich machen kann. Und dieses Nichtverstehen und sich nicht Verständlichmachenkönnen ist wiederum etwas, das alle Zuhörer und Leser des Textes verstanden und mitempfunden haben. Es ist- anders als die komplizierten Gewaltverhältnisse, die ihm zugrunde liegen- offenbar „anschlussfähig“, wie man heute sagt (das englische „I can relate to that“ gefällt mir besser). Und das ist großartig! Das öffnet mir eine Tür, ich habe durch diesen Text gleich mehrere Dinge verstanden, und deshalb bin ich begeistert.

Dienstag, 28. April 2015

Kertész gelesen. gelacht.


Zwischenbemerkung zum Text zum Tod von Günter Grass


Während ich mich abmühe, herauszufinden, was ich denn da unbedingt noch sagen will, über Grass und darüber, was ihm in der Blechtrommel gelungen ist (nämlich, nicht nur die halbe Welt sondern auch jemanden zu erreichen, für den kein anderer Roman über die Zeit des zweiten Weltkriegs jemals irgendeine Berechtigung gehabt hat: meinen Vater)- und während ich versuche zu verstehen, woran es liegt, dass Grass später nie mehr etwas Derartiges gelungen ist, - während ich also um und um und herumdenke, lese ich einen Text von Imre Kertész aus dem „Galeerentagebuch“. Und die folgende Stelle ist so großartig, dass ich sie hier einfach komplett abschreiben muss. Ich habe laut gelacht, das gewisse Auflachen beim „Ja, genau!!“ – Erlebnis.

(Dieses „Ja, genau“, das mir bei Kunst die meiste Freude und Erkenntnis bringt, ist nicht das zufrieden rechthaberische Es-immer-schon -gewusst haben. Bei diesem "Ja genau!" hat man es vielmehr bis zu eben diesem Moment NICHT gewusst, bzw. hat es nicht formulieren können, in Worten nicht und auch nicht in sonstigen wolkigeren Gedankenformationen. Bewusst war einem in diesen Fällen nur die Frage, und auf die präsentiert sich einem mit einem Knall die absolut richtige, einzig mögliche Antwort. Merkwürdig ist dabei nur das Wissen um die Richtigkeit. Dadurch entsteht das Gefühl, die Antwort sei schon lange in einem vorhanden gewesen, und wenn man sie dann liest, stellt sich mehr noch als ein Erkennen das unabweisbare Gefühl des Wiedererkennens ein. Es ist das berühmte und geliebte Evidenzerlebnis,- man kann sein Zustandekommen auf verschiedenste Arten deuten, auf jeden Fall macht es einem aber eine Riesenfreude- und man muss laut lachen, weil es so richtig ist, was man da sieht).


Varianten des Pessimismus. – Der dogmatische Pessimist.
 
Zumeist der verirrte Kleinbürger. Dogmatischer Pessimismus mündet gewöhnlich in dogmatischem Weltverbesserertum. Der dogmatische Pessimismus als Kunst: immer Moralismus. 
Sein häufigster Gegenstand ist die Freudlosigkeit (die unangenehme, jeder Erlösung ermangelnde Beschreibung einer empörenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeit oder eines langen Todeskampfes etwa, wie bei Simone de Beauvoir, «Ein sanfter Tod»). Der moralisierende Künstler bleibt letztlich immer beim persönlichen Fall und bei der fruchtlosen Empörung.
 

Romantischer Pessimismus.
 Er weist die Welt ab, flüstert uns dabei aber seine Geheimnisse ins Ohr. Wie der Gelegenheitsschwindler erschleicht er sich unsere knausrig versteckte Sympathie. Seiner unterschwelligen Tendenz nach ist dieser Pessimismus nämlich Klage, Ergebenheit und Flehen. In den schlimmsten Formen ein verhülltes appellieren an den «nüchternen Verstand».
Dieser Appell an die triumphierende Welt findet immer Gehör. Ergebnis: ein sentimentales Sichumarmen, der Henker verzeiht dem Opfer. –


Der Moralist kann kein Künstler sein, weil er die Welt nicht schafft, sondern über sie richtet und so eine völlig überflüssige Arbeit erledigt. 

Um sich selbst zu rechtfertigen und als Entschädigung, wenn nicht gar aus Rache, zeigt er sein Opfer, den Menschen, als einen ewig moralisch Leidenden, wofür ihn dieser in der Realität natürlich kräftig auslacht. Denn in der Realität ist die Moral ein zwar unabdingbares, zugleich jedoch auch das biegsamste Element menschlichen Verhaltens, und mir ist noch kein moralischer Mensch begegnet, der nicht seine eigene moralische Wahrheit, ja Überlegenheit empfunden hätte. Nicht die Moral: die Spiele, die mit ihr getrieben werden, im Spiegel des Bewußtseins und des Lebenswillens, das ist das Interessante, vornehmlich unter den Bedingungen der totalitären Diktatur.

Montag, 20. April 2015

Zum Tod von Günter Grass 1



Manchmal stirbt jemand und dann wird einem erst bewusst, dass man noch Pläne mit diesem Menschen hatte, dass man ihm im inneren Theater in der Zukunft noch eine Rolle hätte geben wollen. Nachrufe beginnen oft mit einem erschrockenen „ Aber ich wollte doch noch….!“ John Irving hatte einen Brief von Günter Grass auf dem Schreibtisch liegen, als er von seinem Tod erfuhr, den er, so schreibt er im ersten Satz seines Nachrufes ratlos, doch noch beantworten wollte. Grass‘ Verleger schreibt, dass sie gerade mit der Feinarbeit am neuen Buch beginnen wollten, und dass doch auch die erste Lesung schon festgestanden habe, am 12.Mai! , so als wolle er Grass fragen, ob er den Termin etwa einfach vergessen habe.

Mir hat Günter Grass nichts versprochen, er kannte mich gar nicht. Aber als ich von seinem Tod hörte, wurde mir klar, dass da eine Hoffnung gewesen war, die ich allerdings nie, nicht einmal im Kopf, formuliert hatte, aber jetzt, als es keine Chance mehr darauf gab, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich gehofft hatte, Grass mit meinem Vater zusammenbringen, Grass, der gerade überallals Antisemit beschimpft wurde, mit meinem jüdischen Vater, per Post, am Telefon, aber am liebsten von Angesicht zu Angesicht, vielleicht in einem Kaffeehaus.


Es gab eine Zeit, vor etwa einem Jahr, wo ein solcher Plan nicht völlig illusorisch war. Ich hatte damals einen Lektor kennen gelernt, der  seit Neuestem die Werke von Grass betreute. Der Lektor wusste, dass ich durch ein Stipendium der Berliner Akademie der Künste drei Monate lang in dessen ehemaligem Haus in Wewelsfleth an der Elbe gewohnt hatte. So war das Gespräch gleich auf Grass gekommen. Es war die Zeit, wo alle über sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ redeten, darüber, ob es antisemitisch sei. Ich erzählte dem Lektor, dass Grass mir viel  im Kopf herumgegangen sei, als ich unter seinem Dach gewohnt habe. Und ich erzählte ihm, dass ich einen Essay über meinen Aufenthalt in Wewelsfleth geschrieben habe, in dem es Passagen gibt, die davon erzählen, wie lebendig sein Mythos als wilder Kerl immer noch ist, wie man seinen Geist in dem Haus spüren kann, und welche Fragen ich mir über ihn gestellt habe, über den wilden Schriftsteller und den Mann, der das einzige Buch über die Zeit des zweiten Weltkriegs geschrieben hat, das mein jüdischer Vater jemals akzeptiert hat. Ich sagte dem Lektor, dass ich mir vorstellen könnte, dass es einige Abschnitte in meinem Text gäbe, über die sich Grass womöglich freuen würde, was wiederum mich gefreut hätte, denn durch das viele Nachdenken über ihn empfand ich ihn von meiner Seite aus als eine Art Freund. Er aber kannte mich gar nicht und hätte es  vielleicht als Anmaßung empfunden, wenn ich ihm meinen Text geschickt hätte.  Schließlich wohnen jedes Jahr neun Stipendiaten unter seinem ehemaligen Dach und Grass wollte vermutlich nicht mit allen in persönliche Beziehung treten  (eine höfliche Postkarte zum Dank hatte ich ihm schon geschickt). Der Lektor konnte sich nach meiner Erzählung aber gut vorstellen, dass Grass sich tatsächlich freuen würde. Er  bot sich an, die Stellen vorher durchzulesen und sie dann mit einer Erklärung an Grass weiterzugeben.  Also schickte ich ihmgleich am nächsten Tag meinen Text – und wartete ab.

Im Hinterkopf hatte ich die Vorstellung, dass Grass vielleicht den ganzen Text lesen und auf die Auseinandersetzung mit meinem jüdischen Vater stoßen würde, der genau in seinem Alter war. Ich dachte, dass er Parallelen sehen würde zwischen dem zunehmenden Verstummen eines Juden aus seiner Generation und seinen eigenen Schwierigkeiten, sein Verhalten  als junger Mann im Krieg zu erklären und seinem langen Schweigen über seine Zugehörigkeit zur Waffen SS.  Er hätte etwas wie das Gegenbild  zu seinen missglückten Versuchen sich selbst zu verstehen und verstanden zu werden im Schweigen meines Vaters ahnen können.

( So ziemlich der Einzige, der öffentlich mit großem Mitgefühl sein Verständnis dafür geäußert hat, dass Grass so lange über die Mitgliedschaft bei der Waffen SS geschwiegen hat, war der Jude Ivan Nagel. Nagel hat darüber geschrieben, dass er selbst Jahrzehnte gebraucht hat, um irgendetwas über sich in dieser Zeit sagen zu können, und hat damit sein eigenes Schweigen mit dem von Grass verglichen, obwohl Grass doch auf der Seite der Täter war und Nagel ein Opfer).

Mir kam vor, dass Grass sich  bemüht hat, Abbitte zu leisten für etwas, das immer nebulöser wurde, während er es zu greifen versuchte, Abbitte bei Menschen wie meinem Vater. Dass er aber keine richtige Form dafür gefunden hat, und dass seine  Bemühungen ihm nur Verachtung oder Gleichgültigkeit eingebracht hatten, und ihm offenbar auch nicht dazu verholfen hatten, mit sich selbst ins  Reine  zu kommen, so dass er letztlich wie ein wütendes Kind,  wie ein greiser Rowdy,  bei dieser  kindischen Form des Antisemitismus angelangt war, die sagt: „Schaut her wie schrecklich böse die Juden (in Israel) sind, das muss doch gesagt werden dürfen!“

Ich hielt es fürmöglich, dass Grass spüren würde, dass mein Vater genau die Art Mensch war, zu der er eigentlich hätte sprechen wollen.  Es wäre freilich für beide  ein ungeheuer schweres Unterfangen gewesen.   Grass hätte wahrscheinlich meinem Vater gegenüber eine schwer zu definierende  Schuld empfunden,  und wer sollte über die Berechtigung eines solchen Schuldgefühls entscheiden? Mein  Vater wiederum wollte mit niemanden über diese Zeit sprechen, schon gar nicht über Schuld und Wiedergutmachungen. Aber als Grass „Die Blechtrommel“ geschrieben hatte, war es noch „aus ihm herausgestürzt“ , schneller als er es aufschreiben konnte, und es war so wahr gewesen, so lebendig, dass mein Vater es gelesen und sich wiedererkannt hatte, der jüdische Jugendliche aus Bukarest, der im selben Jahr, in dem sich Grass in Danzig freiwillig zu Wehrmacht gemeldet hat, weil er ein glühender junger Nazi war, von der Schule entfernt wurde, weil die Judengesetze in Bukarest es den jüdischen Kindern nicht mehr erlaubten auf die staatlichen Schulen zu gehen, und der während Grass den Umgang mit der Waffe erlernte, die Straßen reinigen musste, auf denen seine ehemaligen Kameraden immer noch zur Schule gingen. Sie waren, so sollte man meinen, natürliche Feinde, ihre Erlebnisse hätten unterschiedlicher nicht sein können. Aber tatsächlich war das, was sie von der Welt gesehen und nur nach und nach begriffen haben können , so ähnlich, und Grass hat es in der Blechtrommel so wahrhaftig geschildert, so unverblendet von Ideologie, obwohl er doch gerade noch durch und durch Nazi gewesen war, dass mein Vater denken konnte : Ja, genau,so war es! - und mir das Buch zum Lesen gegeben hat, als ich etwa 15 Jahre alt war. In gewisser Weise war es das Einzige, wodurch er mir etwas darüber erzählt hat, wie es ihm in der Zeit ergangen ist als er 15 war.  „Die Blechtrommel“ hat damals das, wie ich finde, Nobelste erreicht, was ein Roman leisten kann: sie hat einem Menschen-  mir- , ermöglicht, an Teilen der Erfahrung meines Vaters teilzunehmen, über den Umweg eines Dritten, des Autors.

Bei einer der ganz wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mit meinem Vater  über den Krieg, die Zeit danach, und das, was es für ihn bedeutet hat, gesprochen habe (solche Gespräche waren immer nach wenigen Minuten vorbei, wurden von ihm in einem Tonfall abgeschnitten, der mir klarmachen sollte, dass es unpassend, ungehörig, geradezu widerlich von mir sei, nach diesen Dingen überhaupt zu  fragen), bei einer dieser Gelegenheiten sagte er also sinngemäß: direkt nach dem Krieg habe man keine Zeit gehabt, über irgendetwas Grundsätzliches zu sprechen. Es sei ja alles kaputt gewesen, im Krankenhaus - er studierte Medizin- habe es kein Wasser gegeben, keinen Strom, man habe das Nötigste aufbauen müssen um zu überleben. Aber er habe erwartet, dass es später, wenn alles in halbwegs geregelte Bahnen zurückgekehrt wäre, eine große Diskussion geben werde, zwischen allen, eine Diskussion darüber, wie denn die Menschen nun miteinander weiter leben könnten, nach dem, was passiert sei. Aber diese Diskussion habe es nie gegeben, und nach einiger Zeit habe er begriffen, dass sie auch nie kommen würde, dass er sich damit werde arrangieren müssen.

Wenn ich das aufschreibe, spüre ich welche Hoffnungen er damit begraben hat. Wie viel von dem, was man sich unter einem „guten Leben“ vorstellte, damit für ihn verloren war. Das macht mich ungeheuer wütend. Auf die Welt, und auch auf ihn. Denn er hat diese Form des Sich- Arrangierens,  der Abkapselung und des permanente Misstrauen, als einzig mögliche Überlebensform auch für mich zementiert.

Aber als Grass „Die Blechtommel“ geschrieben und mein Vater sie gelesen hat, und auch noch ein paar Jahre später, als mein Vater sie mir zum Lesen gegeben hat, war dieses Gespräch noch im Bereich des Möglichen. Ich weiß nicht, wie das jahrzehntelange Schweigen für meinen Vater war, ich weiß nur, dass seine Lebensfreude verschwunden ist, für mich war es eine Qual. Und es ist offensichtlich, dass es Grass keine Ruhe gelassen hat, wie er sich von dem wilden, widersprüchlichen und um Wahrhaftigkeit bemühten Autor  der Blechtrommel zum „Gewissen der Nation“ gewandelt hat, ohne sich doch selbst besser verstanden zu haben.  Während mein Vater geschwiegen hat, hat Grass zunehmend jene Sprache verloren, mit der er der Wahrheit über sich und über die Zeit des Krieges hätte näher kommen können. Wieso?

Freitag, 27. März 2015

Traum von einem Komplott zur Ermordung meines Vaters




Diese Nacht wurde ich im Traum vor einem Komplott gewarnt, das die Ermordung meines Vaters zum Ziel haben sollte. An der Sache sollte ein gewisser Castelluzzi oder Castellotti beteiligt sein; die Durchführung der Tat sei, so erfuhr ich, am Beginn der Neunzehnhundertzwanzigerjahre in Rom geplant. Ich wachte in großer Angst auf, beschloss aber, die Warnung zu ignorieren, weil mein Vater da noch nicht einmal geboren sein würde. Im Lauf der Nacht erschienen mir aber noch weitere Szenarien, die mit dem Gefühl einer drohenden Gefahr für meinen Vater verbunden waren. Einmal erkannte ich Rom, einmal Istanbul als Kulisse, und nach den Autos zu schließen, die auf den Straßen fuhren, gehörten diese beiden Szenen in spätere Jahrzehnte, einmal in die 50-er, einmal in die 80-er Jahre.

Später wurde ich auf der Buchmesse interviewt. Ich erzählte von den düsteren Warnungen, gab mich aber ganz ungerührt und machte mich über meinen eigenen Traum lustig. Ich nannte ihn unterkomplex, und parodierte mit verteilten Rollen eine klassische Psychoanalysesitzung.
-„Rom – Paris- Istanbul - mörderisches Komplott“ was fällt Ihnen dazu ein?“
„ Der Orientexpress. Umberto Eco! Eco und Paris - platte Doppelbedeutung - Foucault! Das Foucault’schen Pendel von Eco, und der andere Foucault, der von <Wahnsinn und Gesellschaft>, der die ganze Psychiatrie angegriffen hat, also meinen Vater, der nämlich ein Psychiater ist.“
Ich nannte das von oben herab „kindische Wortspielereien meines Gehirns“ und behauptete, der ganze Eco, Postmoderne usw. seien total passé. Überhaupt sei das Gerede vom Tod des Romans einfach Unsinn, mein Vater sei ja schließlich auch noch am Leben.

Schon während ich redete, merkte ich, dass ich dem Interviewer mit jedem Wort unsympathischer wurde. Es war auch furchtbar ungeschickt von mir, mich so über all die ängstlichen Kollegen zu überheben, die den Tod des Romans fürchteten. Außerdem hatte der Journalist bei der Vorbereitung auf das Interview sicher herausgefunden, dass der Erscheinungstermin meines eigenen Romans für unbestimmte Zeit aufgeschoben war. Damit er nicht denken sollte, ich würde überhaupt nichts schreiben, sagte ihm noch schnell, dass ich gerade an einer Fortsetzungsgeschichte auf Facebook arbeiten würde, „Sexy bus“, über Hippies, fügte ich hinzu, ließ es wie einen Witz klingen und sagte dann noch, mit einem durch nichts zu rechtfertigenden Augenzwinkern „auf Englisch“. Danach dachte ich unglücklich „Well, that went well“, und nahm mir vor, es beim nächsten Interview auszubügeln. Bei dem würde ich einfach und aufrichtig sprechen und auch zugeben, dass die Träume mich beunruhigt hatten. Für einen Moment fühlte ich mich besser, bis mir einfiel, dass gar kein weiteres Interview angesetzt war.

Noch bevor der Wecker klingelte wurde ich durch lautes Pferdegetrappel geweckt. Unsere Straße ist vor Wochen aufgegraben und dann nicht mehr gepflastert sondern mit gestampfter Erde gedeckt worden. Jetzt raste ein Pferdewagen unter dem Fenster vorbei und die Erde spritzte nach allen Seiten. Ich trat hinter den Vorhang und sah entsetzt, dass kein Kutscher auf dem Bock saß, das Fuhrwerk war leer. Plötzlich kam ein Esel aus der Seitenstraße gerannt, das Pferd rammte ihn mit voller Kraft, schob ihn über die Kreuzung und schleifte ihn ein Stück mit, bis er auf die Seite geschleudert wurde. Es war nicht wie ein Zusammenstoß von zwei Tieren, sondern ganz so wie ein Lastwagen oder ein Bus, der ein Auto rammt. Beide Tiere, das Pferd und der Esel, waren größer als es normale Tiere ihrer Art heute sind, etwa eineinhalb Mal so groß. Sie wirkten bedeutender, ernsthafter, unwillkürlich nannte ich das Pferd für mich „ein Ross“. Der Wagen war groß und schwer, er hatte keine Ähnlichkeit mit den Fiakern, die seit einiger Zeit unter den Linden Touristen herumfahren, es war überhaupt keine Kutsche, sondern ein ländliches Gefährt, aber eines, dass zu einem reichen Gehöft gehören musste. Mir war im Hinterkopf bewusst, dass in meiner „Sexy Bus“ Geschichte gerade ein Esel vorgekommen war, und man hätte meinen können, der sei nun sozusagen quer herübergekommen, aber die beiden Esel hatten keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Der Esel auf Gomera war ein kleiner, magerer Bursche gewesen, gemacht um steile Gebirgswege hinaufzugehen. Dieser Esel war groß wie ein Pferd, wenn auch nicht wie dieses Pferd, braun, nicht grau, klobig und stark wie ein Rammbock, bis er von dem riesigen Pferd getroffen, viele Meter mitgeschleift und dann zunichte gemacht wurde. Während das Pferd mit seinem Fuhrwerk ungebremst weiter in Richtung Pfefferberg raste, kam dahinter schon das nächste, wieder ohne Fahrer. Bei diesem noch größeren Pferd bestand der Hinterteil aus Kopf und Brust eines Ochsen. Diese zweite Hälfte des Zwitterwesens sah nach hinten, ob es Ochs oder Stier war, war nicht zu entscheiden, die Hälfte mit den Geschlechtsteilen fehlte ja, dort saß der Vorderteil des Pferdes. Der Ochs trug zum Galoppieren bei, indem er sich mit den Beinen nach hinten abstieß, völlig in der Gewalt seiner mächtigeren Pferdehälfte wurde er blindlings nach hinten mitgerissen. In Sekunden war auch dieses Fahrzeug vorbei. Es wurde wieder still, nur die blutenden Reste des Esels lagen noch am Straßenrand. Jetzt fiel mir ein, dass ich in den letzten Tagen bereits mehrmals solche Pferdefuhrwerke ohne Kutscher in der Stadt gesehen hatte. Ich hatte aber nie jemanden darauf aufmerksam gemacht, wen auch?


Mein Vater hat mir immer sehr davon abgeraten, jemanden mit meinen Träumen zu belästigen, er sagt, Träume würden niemals einen anderen interessieren können als den Träumer selbst, das sei strukturell unmöglich. Falls Einer trotzdem so täte als ob, dann hätte derjenige üble Hintergedanken, meistens finanzieller Art. Erst neulich hat eine junge Frau, der ich von den englischen Stücken der „Sexy Bus“ Geschichte erzählt habe, mit geringschätzigem Lachen gesagt: „Ja, und deine Geschichte gehört jetzt Facebook.“ Weil sie so viel jünger war als ich, hat sie angenommen, dass ich zu jenen uninformierten Personen gehöre, die ahnungslos ihre Daten im Netz verstreuen und dann entsetzt sind, was sie getan haben. Dabei finde ich die Vorstellung schön, dass riesige Maschinen meine Träume nach meinen Wünschen durchkämmen. Obwohl mehr als vier Generationen die junge Frau von meinem Vater trennen, finden beide den Gedanken, dass es dabei um finanzielle Interessen geht, auf die selbe, in den tiefsten Gründen ihres Wesens verankerte Weise abstoßend. Ich hingegen bin verführt von der Aufmerksamkeit, die das Kapital meinen Träumen schenkt, davon, dass es meint sie würden etwas bedeuten. Das war schon bei Joseph in der Bibel so, der dem Pharao auf Grund seiner Träume sieben magere und sieben fette Jahre vorhergesagt hat. Der Pharao hatte -gewaltige-finanzielle Interessen. In Wirklichkeit bedeuten Träume nichts, ich weiß es ja. Sicher, ich habe eine Art Grauen gespürt, als das zweite Fuhrwerk vorbeigerast ist, das mit dem Pferd, das hinten ein Ochs war, oder ein Stier. Aber das Grauen war leer, nur eine Entladung müder Zellen. Es war ebenso leer wie der Kutschbock dieses entsetzlichen Gefährts.


Mein Vater hat nichts zu befürchten. Er ist ohnehin seit heute auf Urlaub in Hofgastein. Dort kann ihm nichts passieren, alle Szenen, die ich gesehen habe, hatten mit den Schluchten von Großstädten zu tun, in einem Kurhotel in den Bergen ist er bestimmt in Sicherheit. Die Warnungen der Pferde und Esel und beiderlei Foucaults können sich in den Netzen der Wunschmaschinen zerstreuen. (und als tröstliche Angebote für Reitstunden, Baldriantropfen und Pendeluhren zu mir zurückkehren).