Montag, 20. April 2015

Zum Tod von Günter Grass 1



Manchmal stirbt jemand und dann wird einem erst bewusst, dass man noch Pläne mit diesem Menschen hatte, dass man ihm im inneren Theater in der Zukunft noch eine Rolle hätte geben wollen. Nachrufe beginnen oft mit einem erschrockenen „ Aber ich wollte doch noch….!“ John Irving hatte einen Brief von Günter Grass auf dem Schreibtisch liegen, als er von seinem Tod erfuhr, den er, so schreibt er im ersten Satz seines Nachrufes ratlos, doch noch beantworten wollte. Grass‘ Verleger schreibt, dass sie gerade mit der Feinarbeit am neuen Buch beginnen wollten, und dass doch auch die erste Lesung schon festgestanden habe, am 12.Mai! , so als wolle er Grass fragen, ob er den Termin etwa einfach vergessen habe.

Mir hat Günter Grass nichts versprochen, er kannte mich gar nicht. Aber als ich von seinem Tod hörte, wurde mir klar, dass da eine Hoffnung gewesen war, die ich allerdings nie, nicht einmal im Kopf, formuliert hatte, aber jetzt, als es keine Chance mehr darauf gab, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich gehofft hatte, Grass mit meinem Vater zusammenbringen, Grass, der gerade überallals Antisemit beschimpft wurde, mit meinem jüdischen Vater, per Post, am Telefon, aber am liebsten von Angesicht zu Angesicht, vielleicht in einem Kaffeehaus.


Es gab eine Zeit, vor etwa einem Jahr, wo ein solcher Plan nicht völlig illusorisch war. Ich hatte damals einen Lektor kennen gelernt, der  seit Neuestem die Werke von Grass betreute. Der Lektor wusste, dass ich durch ein Stipendium der Berliner Akademie der Künste drei Monate lang in dessen ehemaligem Haus in Wewelsfleth an der Elbe gewohnt hatte. So war das Gespräch gleich auf Grass gekommen. Es war die Zeit, wo alle über sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ redeten, darüber, ob es antisemitisch sei. Ich erzählte dem Lektor, dass Grass mir viel  im Kopf herumgegangen sei, als ich unter seinem Dach gewohnt habe. Und ich erzählte ihm, dass ich einen Essay über meinen Aufenthalt in Wewelsfleth geschrieben habe, in dem es Passagen gibt, die davon erzählen, wie lebendig sein Mythos als wilder Kerl immer noch ist, wie man seinen Geist in dem Haus spüren kann, und welche Fragen ich mir über ihn gestellt habe, über den wilden Schriftsteller und den Mann, der das einzige Buch über die Zeit des zweiten Weltkriegs geschrieben hat, das mein jüdischer Vater jemals akzeptiert hat. Ich sagte dem Lektor, dass ich mir vorstellen könnte, dass es einige Abschnitte in meinem Text gäbe, über die sich Grass womöglich freuen würde, was wiederum mich gefreut hätte, denn durch das viele Nachdenken über ihn empfand ich ihn von meiner Seite aus als eine Art Freund. Er aber kannte mich gar nicht und hätte es  vielleicht als Anmaßung empfunden, wenn ich ihm meinen Text geschickt hätte.  Schließlich wohnen jedes Jahr neun Stipendiaten unter seinem ehemaligen Dach und Grass wollte vermutlich nicht mit allen in persönliche Beziehung treten  (eine höfliche Postkarte zum Dank hatte ich ihm schon geschickt). Der Lektor konnte sich nach meiner Erzählung aber gut vorstellen, dass Grass sich tatsächlich freuen würde. Er  bot sich an, die Stellen vorher durchzulesen und sie dann mit einer Erklärung an Grass weiterzugeben.  Also schickte ich ihmgleich am nächsten Tag meinen Text – und wartete ab.

Im Hinterkopf hatte ich die Vorstellung, dass Grass vielleicht den ganzen Text lesen und auf die Auseinandersetzung mit meinem jüdischen Vater stoßen würde, der genau in seinem Alter war. Ich dachte, dass er Parallelen sehen würde zwischen dem zunehmenden Verstummen eines Juden aus seiner Generation und seinen eigenen Schwierigkeiten, sein Verhalten  als junger Mann im Krieg zu erklären und seinem langen Schweigen über seine Zugehörigkeit zur Waffen SS.  Er hätte etwas wie das Gegenbild  zu seinen missglückten Versuchen sich selbst zu verstehen und verstanden zu werden im Schweigen meines Vaters ahnen können.

( So ziemlich der Einzige, der öffentlich mit großem Mitgefühl sein Verständnis dafür geäußert hat, dass Grass so lange über die Mitgliedschaft bei der Waffen SS geschwiegen hat, war der Jude Ivan Nagel. Nagel hat darüber geschrieben, dass er selbst Jahrzehnte gebraucht hat, um irgendetwas über sich in dieser Zeit sagen zu können, und hat damit sein eigenes Schweigen mit dem von Grass verglichen, obwohl Grass doch auf der Seite der Täter war und Nagel ein Opfer).

Mir kam vor, dass Grass sich  bemüht hat, Abbitte zu leisten für etwas, das immer nebulöser wurde, während er es zu greifen versuchte, Abbitte bei Menschen wie meinem Vater. Dass er aber keine richtige Form dafür gefunden hat, und dass seine  Bemühungen ihm nur Verachtung oder Gleichgültigkeit eingebracht hatten, und ihm offenbar auch nicht dazu verholfen hatten, mit sich selbst ins  Reine  zu kommen, so dass er letztlich wie ein wütendes Kind,  wie ein greiser Rowdy,  bei dieser  kindischen Form des Antisemitismus angelangt war, die sagt: „Schaut her wie schrecklich böse die Juden (in Israel) sind, das muss doch gesagt werden dürfen!“

Ich hielt es fürmöglich, dass Grass spüren würde, dass mein Vater genau die Art Mensch war, zu der er eigentlich hätte sprechen wollen.  Es wäre freilich für beide  ein ungeheuer schweres Unterfangen gewesen.   Grass hätte wahrscheinlich meinem Vater gegenüber eine schwer zu definierende  Schuld empfunden,  und wer sollte über die Berechtigung eines solchen Schuldgefühls entscheiden? Mein  Vater wiederum wollte mit niemanden über diese Zeit sprechen, schon gar nicht über Schuld und Wiedergutmachungen. Aber als Grass „Die Blechtrommel“ geschrieben hatte, war es noch „aus ihm herausgestürzt“ , schneller als er es aufschreiben konnte, und es war so wahr gewesen, so lebendig, dass mein Vater es gelesen und sich wiedererkannt hatte, der jüdische Jugendliche aus Bukarest, der im selben Jahr, in dem sich Grass in Danzig freiwillig zu Wehrmacht gemeldet hat, weil er ein glühender junger Nazi war, von der Schule entfernt wurde, weil die Judengesetze in Bukarest es den jüdischen Kindern nicht mehr erlaubten auf die staatlichen Schulen zu gehen, und der während Grass den Umgang mit der Waffe erlernte, die Straßen reinigen musste, auf denen seine ehemaligen Kameraden immer noch zur Schule gingen. Sie waren, so sollte man meinen, natürliche Feinde, ihre Erlebnisse hätten unterschiedlicher nicht sein können. Aber tatsächlich war das, was sie von der Welt gesehen und nur nach und nach begriffen haben können , so ähnlich, und Grass hat es in der Blechtrommel so wahrhaftig geschildert, so unverblendet von Ideologie, obwohl er doch gerade noch durch und durch Nazi gewesen war, dass mein Vater denken konnte : Ja, genau,so war es! - und mir das Buch zum Lesen gegeben hat, als ich etwa 15 Jahre alt war. In gewisser Weise war es das Einzige, wodurch er mir etwas darüber erzählt hat, wie es ihm in der Zeit ergangen ist als er 15 war.  „Die Blechtrommel“ hat damals das, wie ich finde, Nobelste erreicht, was ein Roman leisten kann: sie hat einem Menschen-  mir- , ermöglicht, an Teilen der Erfahrung meines Vaters teilzunehmen, über den Umweg eines Dritten, des Autors.

Bei einer der ganz wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mit meinem Vater  über den Krieg, die Zeit danach, und das, was es für ihn bedeutet hat, gesprochen habe (solche Gespräche waren immer nach wenigen Minuten vorbei, wurden von ihm in einem Tonfall abgeschnitten, der mir klarmachen sollte, dass es unpassend, ungehörig, geradezu widerlich von mir sei, nach diesen Dingen überhaupt zu  fragen), bei einer dieser Gelegenheiten sagte er also sinngemäß: direkt nach dem Krieg habe man keine Zeit gehabt, über irgendetwas Grundsätzliches zu sprechen. Es sei ja alles kaputt gewesen, im Krankenhaus - er studierte Medizin- habe es kein Wasser gegeben, keinen Strom, man habe das Nötigste aufbauen müssen um zu überleben. Aber er habe erwartet, dass es später, wenn alles in halbwegs geregelte Bahnen zurückgekehrt wäre, eine große Diskussion geben werde, zwischen allen, eine Diskussion darüber, wie denn die Menschen nun miteinander weiter leben könnten, nach dem, was passiert sei. Aber diese Diskussion habe es nie gegeben, und nach einiger Zeit habe er begriffen, dass sie auch nie kommen würde, dass er sich damit werde arrangieren müssen.

Wenn ich das aufschreibe, spüre ich welche Hoffnungen er damit begraben hat. Wie viel von dem, was man sich unter einem „guten Leben“ vorstellte, damit für ihn verloren war. Das macht mich ungeheuer wütend. Auf die Welt, und auch auf ihn. Denn er hat diese Form des Sich- Arrangierens,  der Abkapselung und des permanente Misstrauen, als einzig mögliche Überlebensform auch für mich zementiert.

Aber als Grass „Die Blechtommel“ geschrieben und mein Vater sie gelesen hat, und auch noch ein paar Jahre später, als mein Vater sie mir zum Lesen gegeben hat, war dieses Gespräch noch im Bereich des Möglichen. Ich weiß nicht, wie das jahrzehntelange Schweigen für meinen Vater war, ich weiß nur, dass seine Lebensfreude verschwunden ist, für mich war es eine Qual. Und es ist offensichtlich, dass es Grass keine Ruhe gelassen hat, wie er sich von dem wilden, widersprüchlichen und um Wahrhaftigkeit bemühten Autor  der Blechtrommel zum „Gewissen der Nation“ gewandelt hat, ohne sich doch selbst besser verstanden zu haben.  Während mein Vater geschwiegen hat, hat Grass zunehmend jene Sprache verloren, mit der er der Wahrheit über sich und über die Zeit des Krieges hätte näher kommen können. Wieso?

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