Samstag, 4. April 2015

Will Self Über Satire



Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo hat BBC 4 den Autor Will Self um eine Stellungnahme zur aktuellen Rolle der Satire in der Gesellschaft gebeten. Sie hatten von ihm, dem berühmten Satiriker, eine flammende Rede darüber erwartet, dass der Satire alles erlaubt sein müsse, aber er kommt zu einem ganz anderen Ergebnis:


 
Will Self ist einer meiner beiden Leib- und Magenautoren, wenn es um Literatur über Psychiatrie/Psychosen / Drogen/Bewusstsein geht (der andere ist Rainald Götz). Seine Bücher aus den 80-er Jahren sind  allerschwärzeste Satiren, bösartig, mörderisch überdreht, ekelhaft und enorm lustig. Obwohl Self damals oft als britischer Gegenpart zu Bret Easton Ellis bezeichnet wurde, und obwohl seine Texte ebenso drastisch waren wie die von Ellis, wirkten sie auf mich ganz anders, komplex, zärtlich, verzweifelt, und zutiefst dem Glauben an eine bessere Welt verpflichtet. Durch „DieQuantitätstheorie des Irrsins“ von Will Self (und durch „Irre“ von Götz) verstand ich, was ich selbst in der Psychiatrie empfunden hatte, er holte es aus allen Teilen meines Gehirns, machte eine Erzählung daraus, formulierte es für mich. Er erzeugt diesen wunderbaren „Ja, genau! “ Effekt, ich erfuhr, dass ich nicht allein war und auch, dass Literatur das bewirken konnte. In seinen beiden neuen Romanen „Umbrella“ und „Shark“ kehrt Will Self zu einer  Figur aus der Quantitätstheorie des Irrsinns, dem Psychiater Zack Busner, zurück, aber sein Stil hat sich völlig gewandelt. Wo früher bösartige Groteske war, taucht man jetzt tief in die Psyche der einzelnen Personen, ihre Gedankenströme sind kunstvoll ineinander verflochten- deutlich nach dem Vorbild von Joyce- jede Satire ist verschwunden.  Die Wandlung ist verblüffend, als habe Self sich gesagt: „now to something completely different“ (übrigens mit stupendem Erfolg, ich werde alle drei Bücher, das alte und die beiden neuen demnächst hier besprechen).  
Ich dachte beim Lesen von „Umbrella“ , vielleicht sei es einfach eine Frage des Alters, vielleicht bleibe keiner ein Leben lang bissiger Satiriker. Lustiger Weise nennt  Self in seinem Radiobeitrag als erstes denselben Verdacht.  Ihm fällt auf, dass er als Satiriker zu den Vorfällen befragt wird, seine beiden letzten Bücher aber überhaupt keine Satiren mehr sind.  Er ist besorgt, ob er womöglich wie so viele alternde Komiker nun endlich ernst genommen werden möchte. Aber dann kommt er zu einem anderen Ergebnis. Er fragt sich, wann Satire die richtige Form ist. Wann ist es für ihn in Ordnung, sich über etwas lustig zu machen?  Und er nennt die Regel, an die er sich bei Satire immer gehalten hat:  
 „It should comfort the afflicted and afflict the comfortable“.
Es sollte die Gequälten trösten und die Satten quälen“. Vor jeder Veröffentlichung eines Textes hat er sich gefragt: Wen tröstet er? Wen quält er?

Will Self kommt zu dem sehr einleuchtenden Schluss, dass es für Satire einen gemeinsamen Wertebezugsrahmen geben muss, sonst funktioniert sie nicht. Satire kann die Scheinheiligkeit der Mächtigen dem Gelächter preisgeben, sie kann die, die sich allzu bequem in ihrer Moral eingerichtet haben, quälen. Das hat aber zur Voraussetzung, dass die Mächtigen, um die es geht, zumindest vorgeben, an dieselben Werte zu glauben wie diejenigen, die sie mit Hilfe ebendieser  Moral  gefügig halten wollen. Andererseits kann Satire auch „systemerhaltend“ sein, indem sie zeigt, dass sich niemand wirklich hundertprozentig an die Regeln hält, dass nichts so heiß gegessen wie gekocht wird, sie kann die Gequälten trösten, indem sie zeigt, dass wir alle unsere Schwächen haben.

Wie verhält sich das mit Witzen oder Satire über Religion? Eigentlich funktioniert das immer nur innerhalb einer Religionsgemeinschaft. Zum Beispiel gibt es innerhalb der jüdischen Gemeinden viele Witze, die sich damit beschäftigen, wie die Regeln, was man am Schabbes alles nicht tun darf- nicht mehr als soundso viele Schritte gehen, keine technischen Geräte bedienen etc.- mit listigen Tricks umgangen werden können. Der klassische Witz dazu geht so:  Drei Männer streiten sich, welches Dorf  den großartigsten Wunderrabbi hat. Der erste sagt: „Unser Rabbi kann tun Wunder wie  Moses! Neulich is a Jüngelach hinausgefahren mit dem Boot auf den See. Plötzlich kippt das Boot um, das Jüngelach fallt ins Wasser und hätt gemusst ertrinken. Alles steht und schaut, aber keiner kann schwimmen. Da hat unser Rabbi gehoben die Hand, links war Wasser, rechts war Wasser und in der Mitte ist der Rabbi gegangen und hat gerettet das Jüngelach.“ „Das ist noch gar nichts“, sagt der zweite, „bei uns im Dorf war a schreckliches Feuer. A ganzes Haus hat gebrannt und ganz oben unter dem Dach eine Frau mit ihrem Kind. Da hat unser Rabbi gehoben die Hand, links war Feuer, rechts war Feuer, in der Mitte hat sich geöfffnet ein Gang, und der Rabbi ist hinauf und hat gerettet die Mutter und das Kind.“ Sagt der dritte: „Peanuts! Bei uns war das ganze Dorf in Gefahr. Es hat sollen geben ein Prozess und wenn der Rabbi nicht hätte rechtzeitig vor Gericht vorsprechen könne, wäre es mit uns allen aus gewesen. Aber das Gericht war meilenweit weg in der nächsten Stadt und es war Schabbes- wie hätte er hinkommen sollen? Wir waren verzweifelt, haben gedacht, es ist alles aus. Da hat der Rabbi gehoben die Hand- und was soll ich euch sagen? Links war Schabbes, rechts war Schabbes- und in der Mitte ist gefahren der Zug!“    Dieser Witz ist zu einer stehenden Redewendung geworden,  immer wenn man sich aus den Schabbesregeln herauswinden möchte. Das heißt man lacht darüber, wie man sich die Regeln zurecht biegt, das Lachen ermöglicht es, zu sagen: wir alle nehmen es nicht ganz so streng mit den Regeln, wir sind aber deshalb noch keine schlechten Menschen, wir werden einander auch nicht gleich aus der Gemeinschaft hinauswerfen, wir sind alle schwach , aber wir lachen darüber. Das ist das Systemerhaltende an diesen Witzen. Das funktioniert natürlich nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Es funktioniert nicht, wenn derjenige, der den Witz erzählt, und der, der ihn hört, nicht den selben Bezugsrahmen haben.  Wenn der, der ihn hört, gar nicht weiß, was am Schabbes alles verboten ist, versteht er nicht, worin der Witz liegt. Wenn sich aber zwei Nichtjuden diesen Witz erzählen, dann vielleicht um drüber zu lachen, dass Juden Menschen sind, die ihre eigenen Regeln mit gefinkelten Tricks umgehen. Und womöglich sind das zwei selbstgerechte Menschen, die denken: wir halten unsere Regeln ein, aber Juden tun das nicht. Dann bedeutet dieser Witz nicht mehr: wir sind doch alle schwach, sondern: Juden beugen Regeln zu ihrem eigenen Vorteil, sind schlechtere Menschen als wir und das ist es worüber wir lachen. Auf einmal ist das keine tröstliche Satire mehr sondern Antisemitismus. Es ist derselbe Witz, aber ohne gemeinsamen Kontext wird er offensiv

Es gibt auch Religionswitze, die so gehen: Treffen sich ein Rabbi, ein Priester und ein Imam an einem heißen Tag an einem See, aber sie haben keine Badehose dabei… Oder so: Ein Jude, ein Christ und Atheist stehen an der Himmelstür und wollen hinein…. Es folgen Geschichten darüber, wie sich jeder von den Dreien auf seine jeweils eigene  Art aus dem  Dilemma herauswurschtelt. Diese Art von Witzen hat ebenfalls einen gemeinsamen Kontext, der in etwa lautet: wir haben alle irgendein System aus ethischen Regeln. Wir alle befolgen einen Teil dieser Regeln, wir alle haben aber auch unsere Mittel und Tricks um sie zu beugen. Wir haben zwar nicht alle dieselbe Religion, aber wir sind uns insofern ähnlich, als wir alle ein Moralsystem haben,  das, wenn es nicht selbst eine Religion ist, so doch aus einer abgeleitet ist.  Und  während wie uns im Großen und Ganzen daran halten, begehen wir doch alle unsere kleinen Sünden.  So kann es auch bei Angehörigen verschiedener Religionen einen gemeinsamen Raum geben, in dem man lachen kann. Der muss aber hergestellt werden und jeder, der an ihm teilhat, muss bereit sein, als erstes die Schwächen der eigenen Gruppe der Lächerlichkeit preiszugeben. Das ist nur möglich, wenn zwischen den Gruppen politisch und ökonomisch einigermaßen Frieden herrscht.

Will Self meint, dass es diesen gemeinsamen Raum in Frankreich oder auch bei ihm in England zur Zeit nicht gibt. Die Karikaturen in Charlie Hebdo seien von den Falschen für die Falschen gemacht gewesen, hätten nicht die Mächtigen beunruhigt und die Schwachen getröstet. 

Ich hatte mir über das alles noch keine Gedanken gemacht. Ich habe seit einiger Zeit versucht, mir den ironischen Stil zurück zu erobern, den ich vor langer Zeit aufgegeben hatte.  Als ich zu schreiben begann,  war der ironische Ton bei mir sozusagen Werkseinstellung.  Er funktionierte in jungen Jahren gut in Briefen, in Artikeln für die Schülerzeitung,  später auch für die Stadtzeitung und in ein paar kleinen Geschichten. Mein Stil galt als leicht und amüsant und ich schrieb mühelos und schnell (selige Zeiten waren das!). 

Bald darauf begriff ich mich dann aber als Teil der außerparlamentarischen Linken.  Und da hieß es, wer über gesellschaftliche Probleme so schreibt, dass man über sie lachen kann, verschafft jener Wut ein Ventil, die den Umsturz der Verhältnisse herbeiführen könnte. Das wollte ich nicht, und ich musste auch zugeben, dass meine Ironie tatsächlich einer fatalistischen Grundhaltung entsprang. Wenn ich den Tonfall in meinem Innere einschaltete, konnte ich mein jüdische Großmutter hören, wenn sie sagte „ No, wos soll man scho machen“, oder aber die orientalischen Händler am Wiener Naschmarkt, die mit derselben Geste, die auch meine Großmutter machte – zum Himmel gedrehte Handflächen, ein seitlich geneigter Kopf, hochgezogene Schultern- „Inschallah“ sagten, wenn ihnen eine Steige Obst hinunterfiel und am Boden zerplatzte. Aber es sollte eben kein Schicksal sein, dass alles so blieb, wie es war, es sollte sich alles ändern, und ich gab meinen ironischen Tonfall auf. 

Nun, da es mit der Revolution nichts geworden ist und ich durchaus nicht mehr denke, dass alle Konflikte zwischen Menschen unbedingt radikal zugespitzt werden sollten, habe ich versucht, die ironische Sprache wieder einzusetzen. Aber ich merke, genau wie Will Self es beschreibt, dass mir diese Sprache nicht mehr so zur Verfügung steht wie früher. Zwar glaube ich, den Tonfall noch zu beherrschen, aber ich muss vorsichtig sein. Oft bin ich nicht mehr lustig sondern beleidigend. Rund um mich ist keine Gruppe mehr, die sich ganz selbstverständlich auf gemeinsame Wertvorstellungen beziehen würde. Aber  Witze müssen „grenzwertig“ sein, wenn sie nicht an einer Grenze balancieren, sind sie nicht lustig. Ich komme aus einer jüdischen Familie. Ich weiß, dass die allerübelsten Witze über Juden von Juden erzählt werden. Und es nicht etwa so, dass sie denken es sei ja „gar nichts dran“ – dann wären sie auch nicht lustig. Aber wenn dieselben- oder sogar  viel mildere Witze von Nichtjuden erzählt werden, dann wittern Juden schnell Antisemitismus, und wer könnte ihnen das verübeln. Christen, die intern gern alles locker nehmen, werden Atheisten gegenüber schnell „päpstlicher als der Papst“ wenn sie sich angegriffen fühlen. Und ich bin sicher, dass auch Muslime sich nicht zu jeder Zeit derart schnell beleidigt gefühlt haben wie jetzt,  wenn der Name des Propheten fiel.

 Nehmen wir die Schottenwitze- in der Hoffnung, dass kein einziger Schotte diese Zeilen liest. Schottenwitze habe nur ein einziges Thema: Schotten sind furchtbar geizig.  Auch Schotten selbst erzählen diese Witze. Und nach allem, was man hört, ist an der Sache auch was dran. Bis zu einem gewissen Grad kann man also Schotten damit aufziehen. Man kann seinen Ärger darüber, dass sie zum Beispiel zu wenig Trinkgeld geben, mit einem Witz entschärfen. Voraussetzung dafür ist eine gemeinsame Grundeinstellung, die da heißt, man soll nicht alles für sich behalten, sondern immer auch einen Teil der Allgemeinheit geben, großzügig sein, auch wenn man persönlich nichts dafür zurück bekommt.  Alle denken das,  und allen ist gleichzeitig es ein bisschen unangenehm, etwas hergeben zu müssen. Am schlimmsten ist das bei den Schotten, sagen Witze und Vorurteile, und auch die Schotten selbst. Solange man Witze darüber machen kann, und auch sagen kann: jedes Volk hat so seine Mätzchen. Schotten sind geizig, andere haben andere Fehler, - solange muss man sich eventuell deswegen nicht die Schädel einschlagen. Solche Satiren sind systemerhaltend und das System ist das des halbwegs friedlichen Zusammenlebens von Gruppen mit verschiedenen Mentalitäten. Über die kann man sich lustig machen, und eventuell muss man da auch ein bisschen verhandeln, aber man kann auch damit leben. Man muss niemanden deshalb ausschließen, verjagen oder gar umbringen. Das muss klar sein. Ohne dieses  Grundvertrauen sind Witze nicht möglich. 

Dieses Grundvertrauen ist nicht mehr da. Will Self kommt deshalb zu dem Schluss, dass Satire unter den momentanen multikulturellen Bedingungen nicht möglich ist. Allen das gemeinsame System aufzuzwingen, das die Witze erst verständlich und dann lustig macht, hält er für Kulturimperialismus. 

Was für ein Verlust.  Wie schade, diesen gewissen Stil nicht mehr benutzen zu können, der in Andeutungen spricht; den Tonfall, der davon ausgeht, dass alle, die etwas von einem lesen werden, im Grunde dasselbe denken, wünschen, verachten, ahnen wie man selbst; dass man Codes zur Verfügung hat, um sich über Unaussprechliches zu verständigen, weil man- zu einem gemeinsamen Stamm gehört.
Der Komiker Jerry Seinfeld hat neulich in einem Interview gesagt, der schönste Moment bei der Emmy Verleihung sei für ihn immer, wenn die Comedy Schreiber auf die Bühne kommen. „Du siehst diese Gnom- artigen Kretins, fast alle irgendwie missgebildet. Und du denkst dir: ja, so bin ich. Da gehöre ich dazu. Das ist mein Stamm. Wenn du fünfzig bist, willst  du nicht mehr bei den coolen Leuten sein. Du willst bei deinen Leuten sein.“
Als er das sagte „I knew: that’s me, that‘s my tribe“ hat es mir die Tränen in die Augen getrieben  vor lauter Selbstmitleid, weil ich keinen solchen Stamm habe. Und bestimmt ist es kein Zufall, dass gerade die Comedy Schreiber so etwas von sich sagen können, denn wenn sie es nicht könnten, wenn sie keine große Gruppe da draußen spüren würden, die im Grund so denkt und fühlt wie sie, dann könnten sie ihr Witze nicht machen. (Und natürlich sind das die Kulturimperialisten, ich bin froh dass mir Will Self ein so böses Schimpfwort aus den guten alten linken Tagen für sie an die Hand gegeben hat,  wenn ich schon nicht zu ihnen gehören kann.  Saure Trauben…)

Die beiden letzten Romane von Will Self sind großartig. Er hat sich sprachlich völlig neue Bereiche erschlossen, seit er nicht mehr satirisch schreibt. Vielleicht ist es immer auch eine Chance, keinen Stamm mehr zu haben, mit dem man sich über Codes austauschen kann. Denn ich spreche ja auch zu mir selbst im Kopf in demselben ironischen Ton, in dem ich früher so locker schreiben konnte; ich benutze auch mir selbst gegenüber diese Auslassungen, habe auch für mich an den „gewissen Stellen“  keine Worte. Codes sind Übereinkünfte innerhalb einer Gruppe,  gibt es die Gruppe nicht mehr,  zerbröckeln die Codes mit der Zeit. Und dann, wenn an diesen Stellen, an denen ich früher mit mir selbst witzeln konnte, endgültig  keine Verständigung mehr möglich sein wird, werde ich versuchen müssen, neue Ausdrucksformen zu finden, um wenigstens mit mir selbst zu reden.

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