Freitag, 12. April 2024

LA STRADA MOLESTA, VIRTUAL REALITY PERFORMANCE von Silvia Albarella

        

   © Silvia Albarella

 

Die virtuelle und begehbare Performance „La strada molesta“ von Silvia Albarella  ist etwas ganz Besonderes: eine 3D Welt, die nicht von einem Computerprogramm berechnet ist, sondern komplett von Hand gemalt. Und zwar zuerst als Entwurf jedes einzelnen Bildes- etwa wie ein gezeichnetes Storybord beim Film – diese Skizzen sind im Theater ausgestellt. Und dann noch einmal im Computer dreidimensional gemalt. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie das geht, aber es sieht aus wie Skulpturen aus Pinselstrichen.

Obwohl man die Reise in der virtuellen Welt allein unternimmt, ist es doch eine öffentliche Erfahrung.  Es beginnt mit einer Einweisung für je zwei Besucherinnen durch eine Cyber-stewardess aus Fleisch und Blut (Yuko Matsuyama), die einem die Grenzen des Raumes erklärt, innerhalb derer man sich frei bewegen kann. Zwar kann man mit Hilfe eines Controllers, den man in der Hand hält, auch fliegen, aber für das Erlebnis ist das Selbst- Gehen wichtig. Es überzeugt nämlich das Gehirn wider besseres Wissen davon, dass, wenn die eigenen Schritten real sind, die Straße, auf der man sie tut, es auch sein muss. Man setzt die Brille auf und vor einem erscheint eine  schwebende Gestalt im wein-roten Ballkleid aus sich bauschenden Pinselstrichen, der man ins Innere des Straßengewirrs folgt.

Diese Straße, die Strada molesta, belästigt die Menschen, bedrängt sie, hält sie in ständiger Alarmbereitschaft. Silvia Albarella beschwört in dieser Performance die Atmosphäre herauf, die im Neapel ihrer Kindheit geherrscht hat: die Gewalt, die in der Luft liegt, das Marktschreierische, Heißblütige, den Machismo. Dabei hat sie nicht nur die Straßen Neapels aus ihrer Erinnerung gemalt, sondern auch Fotos aus dem heutigen Neukölln benutzt, das sie in vieler Hinsicht an ihre Gefühle in Neapel erinnert. In den Straßenschluchten tauchen verschiedenste Wesen auf, Modefigurinen und Vogelscheuchen, riesige Monsterköpfe, fluoreszierende Geister. Während die meisten Schöpfer virtueller Realität versuchen, dass ihre Welt so echt wie möglich wirkt, plastisch, plausibel und realistisch, benutzt Silvia Albarella eine ganz andere Ästhetik. Alles ist Skizzenhaft hingeworfen. Die Hauswände, zwischen denen man geht, lassen einen keineswegs glauben, dass sich dahinter reale Häuser verbergen. Es sind Kulissen, bemalte, mit Fotos beklebte Stellwände. Geht man um sie herum, zeigen sie ihre Hinterseite: flirrend weiße Leere. Die Grenzen der Figuren scheinen durchlässig, sie fordern einen dazu heraus, sie auszutesten. Und wirklich kann man direkt in ihr Inneres hineingehen, die sinnvolle Gestalt zerfällt, man findet sich in einem Wald aus Pinselstrichen, vor dessen Fremdheit man sich ängstigen, in dem man sich aber auch beschützt fühlen kann.

 Es gibt auch eine erzählende Stimme (Text: Maike Wetzel), die in einer unklaren Beziehung zur Straße steht. Sie spricht von Kindheitserinnerungen, von Gewalterfahrungen, aber sie stammt aus einem Land, in dem vor kurzem noch Krieg war, die Grenzen mit Blut markiert sind, also nicht aus Italien. Und es gibt eine Tonspur, mit Musik und Geräuschen: kreischende Bremsen eines Motorrads, ein Ball fliegt, ein Fenster zerbricht. Es gibt Splitter von Geschichten: ein Vater, der den Gürtel herausholt und zuschlägt, die dreckige, bunte Front eines Spielkasinos, die Fabel vom Frosch, der durch Strampeln Milch zu Butter macht und der sich so aus dem Krug retten kann, in den er gefallen ist.

Es sind Fragmente, die aufeinander antworten, sich widersprechen, oder schroff nebeneinanderstehen. Die fehlende Kohärenz zwischen Text, Ton und Bild treibt einen in eine rastlose Suche nach der Wirklichkeit hinter den Kulissen, die, so fühlt man, einfach da sein muss. Man beginnt unwillkürlich die vielen Leerstellen mit eigenen Erinnerungen und Träumen zu flicken und man gerät in einen Zustand, der erstaunlich nah an das Traumbewusstsein herankommt. Dabei fühlt man sich nicht wie in einem eigenen privaten Traum, sondern auf unklare aber bedeutungsvolle Weise als Bürger*in eines Raumes, in dem öffentlich geträumt wird. Silvia Albarella hat eine spannende künstlerische Vision des kollektiven Unterbewussten geschaffen.

Die Reise dauert nicht lang- 25 minuten- danach ist man merkwürdig erfrischt. Man fühlt sehr klar, dass man die Welt außerhalb der Brille ebenfalls selbst konstruiert, alles ist virtual reality-  mit oder ohne VR Brille, kein inneres Bild kommt ohne die eigene Konstruktion aus. Man erinnert sich, was man in der Schule gelernt hat: dass alles  aus Atomen und den Kräften zwischen ihnen besteht.  Dabei kann man den nächsten beiden VR Touristen zusehen, wie sie mit ihren Brillen durch die Strada molesta schlendern, plötzlich zusammenzucken- wahrscheinlich weil ihnen die Monster begegnet sind, und wie sie sich ihnen tapfer stellen – oder in sie hineinkriechen.

Silvia Albarella hat ein Erlebnis kreiiert, das einen durch seine offene skizzenhafte Qualität in sein merkwürdiges Inneres hineinzieht und einen verändert. Ihr gelingt, was T.S. Eliot seinen Lesern im wüsten Lands verspricht: I show you fear in a handful of dust.

 

 

Künstlerische Leitung/VR Bühnen-/Kostümbild Silvia Albarella Performance Yuko Matsuyama Künstlerische Mitarbeit/VR CyberRäuber (Björn Lengers, Marcel Karnapke) Text Maike Wetzel Soundcollagen Tobias Dutschke Assistenz Ivan Maaz Produktionsleitung Elisa Calosi Klangszenografie TAUCHER Sound Scenografy Stimmen Vernesa Berbo / Yvette Coetzee / Carla Ferraro Produktion Silvia Albarella 

 

Dienstag, 17. September 2019

Deutscher Buchpreis 2019 - Leseprobenheft- 4.und letzter Teil mit Shortlist Prognose


    

Ich muss von meiner teilweisen Kapitulation berichten. Je mehr Buchanfänge ich gelesen habe, desto unwirscher wurde ich. Ich wollte weniger und weniger drüber nachdenken, warum mir etwas nicht gefällt, mich nicht hineinzieht - und noch weniger wollte ich es formulieren. Bei den Buchanfängen, die ich mochte, wollte ich hingegen lieber sofort dieses Buch weiterlesen als nach einem neuerlichen Interruptus gleich wieder zum nächsten Anfang hüpfen. Das habe ich auch getan- ich habe inzwischen drei der Bücher gelesen (zwei davon,  Saša Stanišić- "Herkunft" und Angela Lehner "Vater unser", mochte ich sehr. Ulrich Woelks"Der Sommer meiner Mutter" hat mich nach einiger Zeit immer weniger überzeugt und zuletzt geärgert. Nora Bossongs "Schutzzone" bekomme ich in den nächsten Tagen und bin schon sehr gespannt)

Ich bespreche also nur noch ein paar Buchanfänge aus der zweiten Hälfte des Leseprobenhefts und werde dann- erleichtert- zum Lesen ganzer Bücher zurückkehren. Gelernt habe ich, dass mir die Stimme, der "Sound", eines Buches das Allerwichtigste ist, wenn ich die Autorin noch nicht kenne. Es ist wie ein erstes Rendezvous- entweder jemand ist mir sympathisch oder eben nicht. Damit meine ich nicht, dass mir die Figur des Erzählers oder die Hauptfigur sympathisch sein muss, sondern direkt der Autor oder die Autorin- und die muss "zu ihrer Stimme gefunden haben", damit ich sie überhaupt erkennen kann. Bei zwei Drittel der Buchanfänge in diesem Heft ist das nicht der Fall. Ich habe das Gefühl, dass sich da jemand verstellt, verrenkt, herumtüdelt, um mir oder irgendwelchen phantasierten Kriterien zu genügen, so dass ich ein wenig peinlich berührt bin und das Rendezvous so schnell wie möglich beenden möchte. Und ich merke auch, dass ich älter und verzopfter werde, ohnehin nur noch bereit bin, mich auf neue Autorinnen einzulassen, wenn "meine" Schriftsteller, die ich als meine Freunde betrachte, zu lange nichts Neues liefern und ich ohne Stoff dastehe. Frisch verlieben kann ich mich leider nur noch selten (zuletzt in Helen Oyeyemi- ist aber noch nicht heraus, ob es etwas Festes wird)- und bei den diesjährigen Gelonglisteten war diesbezüglich keine Kandidatin für mich dabei.

Hier also eine Auswahl aus der zweiten Hälfte- 1 meint immer, ob ich nach einer Seite weiterlesen würde 2 ob ich nach der ganzen Leseprobe gern weiterlesen würde.

 https://imageservice.azureedge.net/api/getimage?productId=27670794 Bildergebnis für schachinger nicht wie Bildergebnis für stanisic herkunftBrüderBildergebnis für sommer meiner mutter

Tonio Schachinger - "Nicht wie ihr" 

1: ja

2: ja

1: Das Innenleben eines österreichischen Fußballprofis- fiktiv, aber mitten unter die "Echten" hineingemischt. Das mag ich schon mal sehr, die Mischung aus echten Personen des öffentlichen Lebens und einer da hineinverpflanzten fiktiven Figur. (Habe ich bei Bolano lieben gelernt). Sehr direkter Ton, witzig-lakonisch, Wienerisch (obwohl hochdeutsch, aber in der Melodie der Sätze erkennbar- wir Österreicher*innen sind ja patriotisch und freuen uns wenn wir unsere Sprache lesen)

2: Die Hauptfigur wird einem schnell sehr sympathisch und im selben Zug wird klar, dass der Kerl ein übler Macho ist, überheblich usw.- sehr gut gemacht- bin schon mit ihm befreundet und er geht mir schwer auf die Nerven- ganz wie ein echter Freund also.
 

Norbert Scheuer "Winterbienen"

1: ja

2: nein 

(Fingierte) Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 44/45. Der Mann beschreibt, wie er mitten im Krieg Bienen züchtet, beschreibt seine Familie, Vater und Großvater waren ebenfalls Bienenzüchter, die Landschaft, die Auswirkungen des Krieges. Alles in sehr schöner Sprache- es birgt auch ein Geheimnis, das scheint mir ein wirklich sehr guter Text zu sein- nur leider nicht für mich. Für mich ist das einfach zu ruhig, zu undramatisch, ich kann aber spüren, dass das in diesem Fall ganz und gar an mir liegt und dass das ein Buch ist, das hohe Qualität hat und vielen Menschen gefallen wird.   

 Saša Stanišić "Herkunft"

1 und 2: ja und ja und habs auch schon getan

Stanišić ist das, was man im alten Sprachgebrauch als "geborenen Erzähler" bezeichnet. Er kann von allem und jedem so lebendig erzählen, dass man die Personen vor sich sieht, er übertreibt gerade soviel, dass man alles lustig und interessant findet und es gerade noch so glauben kann. Er ist ein Kaffeehaus oder Wirtshauserzähler, und man will sich jederzeit zu der Gruppe gesellen, die sich um ihn schart, will erfahren, was seine demente Großmutter alles erzählt und was sie vergessen und wie neu zusammengebastelt hat. Dies ist gar kein richtiger Roman, sondern eine Mixtur aus Familiengeschichten und einem Essay über Herkunft- und ich widerspreche ihm bei so ziemlich jeder seiner Erkenntnisse, und zwar während ich es lese "Blödsinn!" sage ich laut- "du widersprichst dir und merkst es nicht einmal!"- streite also laut mit ihm und lese weiter- eine sehr angenehme Leseerfahrung!

 Jackie Thomae "Brüder"

1: ja

2: nein

1: Angenehmer, lakonischer Ton...
2:... aber etwas fehlt. Der Junge, von dem da erzählt wird, interessiert mich einfach noch nicht genug. Ist nicht mein Typ - so ein cooler kurz vor Ende DDR. Vielleicht bin ich aber eben auch nur buchanfangsmüde- s.o.  Ich werds in ein paar Wochen nocheinmal probieren,

Ulrich Woelk "Der Sommer meiner Mutter

1: ja 
2: ja

"Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben." Schockierender Anfang - die Erzählung springt zurück, der dreizehnjährige Sohn ist Icherzähler- und am Anfang ist die spießige Kleinfamilienidylle in einem Vorort von Köln natürlich deshalb interessant, weil man weiß, dass in wenigen Monaten dieses Unglück hereinbrechen wird. Der Junge ist extrem naiv, macht in diesem Sommer seine ersten sexuellen Erfahrungen und begreift weder was in ihm selbst vorgeht, noch was mit den Erwachsenen los ist. Das ist am Anfang plausibel, aber dann wird es immer konstruierter. Von mir selbst und vielen Anderen kenne ich die drängenden Fragen, die man am Beginn der Pubertät über alles hat, und dass dieser Junge so gar keine Neugier über das Innenleben der Menschen entwickelt, wirkt zunehmend enervierend, irgendwann eitel und letzlich einfach falsch. Die zu Anfang gewährte Suspension of disbelief nehme ich als Leserin wieder zurück. 


Meine Shortlist - Wunschkandidaten:

Saša Stanišic, Nora Bossong, Angela Lehner und Tonio Schachinger

Meine Shortlist- Prognose: 

Saša Stanišic, Nora Bossong, Norbert Scheurer, Ulrich Woelk, Marlene Streeruwitz und Miku Sophie Kühmel oder Jackie Thomae.

Der oder die Gewinnerin sollte unter den ersten Dreien sein.  Saša Stanišic ist schon zum dritten Mal nominiert- "Herkunft" finde ich von seinen drei Büchern das schwächste- trotzdem wäre es wirklich angemessen, wenn er ihn bekommt. Nora Bossong gefällt mir vom Anfang her sogar noch besser- und ich denke auch vielen Anderen- aber ich weiß noch nicht, wie das Buch weitergeht. 

P.S.: Und wenn ich die Jury wäre, wäre ich über die Beleidigungen in der Zeitung so böse, dass ich Karen Köhlers "Miroloi" justament auf die Shortlist setzen würde. Aber die sind ja vielleicht nicht so trotzig und kindisch wie ich.... Morgen Mittag wird man es sehen.

 










Freitag, 6. September 2019

Deutscher Buchpreis 2019 - Longlist Leseproben Teil 3 ( Lehner, Maeß, Osang)


Weiter gehts mit dem dritten Teil des Leseprobentests. Ich frage mich 1: würde ich nach einer Seite weiterlesen 2: würde ich nach der Leseprobe im Heft das ganze Buch lesen wollen?

Hier war Teil 1 und hier Teil 2.

Angela Lehner Vater unser 

1:ja

2:ja

1und 2 : Perfekt für mich - und sicher auch für viele Andere. Für das Thema bin ich Spezialistin: Die Icherzählerin ist eine junge, eloquente Manikerin, die gerade in der Psychiatrischen Anstalt eingeliefert wurde und jetzt das Erstgespräch mit ihrem zuständigen Arzt führt. Ich kenne sowohl die Wiener Psychiatrie - das berühmte Otto-Wagner-Krankenhaus "Am Steinhof"-  von innen, als auch das Kopfrasen in der Manie. Wäre da irgendwas in meinen Augen "nicht ganz richtig", würde ich sofort herumpingeln. Ist es aber nicht, Angela Lehner trifft alles perfekt. Wie die Icherzählerin sich innerlich über alles lustig macht, den Arzt an der Nase herumführt (denkt sie jedenfalls), ohne jedes Gefühl für die Mieslichkeit ihrer Lage die ganze Anstalt in einen grandiosen inneren Vergnügungspark für sich selbst und die Leser*innen-komplizen verwandelt- das ist herrlich. Nach fünf Seiten ist noch alles möglich: das kann so lustig weitergehen oder irgendwann in eine furchtbare Katastrophe kippen- mir wäre beides Recht. Das Buch ist schon bestellt! (Und inzwischen auch für den Österreichischen Buchpreis nominiert.)


EMANUEL MAESS Gelenke des Lichts 

1: jein

2: ja

1:  Da sitzt ein Icherzähler und plaudert mit sich selbst über den Mond. So gehts los: "Vor einigen Jahren, als ich einen Abend lang vergeblich auf Dich wartete, ergab sich die Gelegenheit, wieder einmal einem Mond zuzusehen." Ihm ist also romantisch zu Mute und dann ironisiert er das sofort wieder- in endlosen und in der Mehrzahl tatsächlich gelungenen Wendungen. Das ist eine sprachliche Angeberei höchster Güte- denn natürlich ist es schon schwer, auch nur einen einzigen Satz über den Mond zu schreiben, der nicht völlig abgedroschen ist- geschweige denn drei (!) Seiten über nichts Andreres herumzumäandern. Man kann und muss schon den Hut ziehen- andererseits ist es natürlich so eitel und leer und unangemessen für die Figur- die ein noch sehr junger und sehr verliebter Bub sein soll- dass das in seiner Verkehrtheit nervt, aber man kann es auch schon wieder lustig finden. Ein sehr langer manieristischer Sermon eben. 

2: Seite zwei und drei: immer noch Mond. Gekonnt, wie der Autor Vorwürfe, von denen er ahnt, dass die Leser sie machen werden, vorwegnimmt und sie seinerseits an den Mond richtet:
"Gelassen und ein wenig selbstgefällig ging er über meiner wachsenden Ungeduld..auf". ... "Vielleicht schleppte er ein bisschen viel Biedermeier mit sich herum und für den Anlass zu grelles Silber" ("Oh ja!!! Allerdings!"denkt die Leserin- und muss dann natürlich lachen. Noch mehr Mond hätte ich nicht mehr vertragen. Muss aber aus sehr persönlichen Gründen weiterlesen: auf Seite 4 erfährt man endlich, wo der Junge ist: in einem heruntergekommenen Strandhotel, in den 80er Jahren, das in der DDR zu einem Arbeiterferienheim umfunktioniert wurde. Da der Roman, an dem ich schreibe, "Grand Hotel Walfisch", in einem heruntergekommenen Strandhotel spielt, das in der DDR zu einem Arbeiterferienheim umfunktioniert wurde, (allerdings ist "meins" ein ehem. Grandhotel mit einer phantastischen Kuppel!) muss ich jetzt natürlich weiterlesen. Tatsächlich beginnt mich der Roman jetzt auch zu interessieren- ob das auch Leuten so geht, die nicht gerade selbst über so ein altes Strandhotel schreiben, kann ich nicht beurteilen- dazu fehlt mir die nötige Distanz.

 alexander osang Die Leben der Elena Silber

1:ja

2:ja 

1: "Sina Krasnowa schob die letzten Scheite in den Ofen, als sie draußen in der Stadt ihrem Mann einen Holzpfahl in die Brust schlugen." Na, das ist jedenfalls ein entschlossener Anfang. Nicht drauf aus, zu zeigen, wie fein der Autor Sätze drechseln kann, sondern dazu da, die Leser*innen mit sofortiger Wirkung zu beeindrucken und zu fesseln. Und das funktioniert auch.

2: Der Anfang spielt in Russland - wahrscheinlich vor der Oktoberrevolution. Nach etwa drei Seiten springt die Erzählung nach Berlin in die Jetzzeit. Wahrscheinlich ist das dieselbe Familie- die Geschichte der Großeltern damals und des Enkels jetzt. Ein Panorama des Jahrhunderts also. Der Stil: fast nur Hauptsätze, eine schnelle folge, eingängige Bilder, "süffig"- das ist ein Unterhaltungsroman. Und als solchen will ich ihn auch gern lesen.


Mein Ergebnis zur Halbzeit: 

Bisher hat mich keiner der Buchanfänge so begeistert, dass ich gedacht hätte: das ist es! Das muss den Buchpreis bekommen.  Auf die Shortlist wünsche ich mir bisher die Bücher von Nora Bossong und Angela Lehner.

>
<div style='clear: both;'></div>
</div>
<div class='post-footer'>
<div class='post-footer-line post-footer-line-1'>
<span class='post-author vcard'>
Eingestellt von
<span class='fn' itemprop='author' itemscope='itemscope' itemtype='http://schema.org/Person'>
<meta content='https://www.blogger.com/profile/15134710615100816436' itemprop='url'/>
<a class='g-profile' href='https://www.blogger.com/profile/15134710615100816436' rel='author' title='author profile'>
<span itemprop='name'>g.</span>
</a>
</span>
</span>
<span class='post-timestamp'>
um
<meta content='http://gretelwallfisch.blogspot.com/2019/09/deutscher-buchpreis-2019-longlist.html' itemprop='url'/>
<a class='timestamp-link' href='https://gretelwallfisch.blogspot.com/2019/09/deutscher-buchpreis-2019-longlist.html' rel='bookmark' title='permanent link'><abbr class='published' itemprop='datePublished' title='2019-09-06T00:04:00+02:00'>00:04</abbr></a>
</span>
<span class='post-comment-link'>
<a class='comment-link' href='https://gretelwallfisch.blogspot.com/2019/09/deutscher-buchpreis-2019-longlist.html#comment-form' onclick=''>
Keine Kommentare:
  </a>
</span>
<span class='post-icons'>
<span class='item-action'>
<a href='https://www.blogger.com/email-post.g?blogID=9075782930909587991&postID=8505777700563995322' title='Post per E-Mail senden'>
<img alt='' class='icon-action' height='13' src='https://resources.blogblog.com/img/icon18_email.gif' width='18'/>
</a>
</span>
<span class='item-control blog-admin pid-1876605396'>
<a href='https://www.blogger.com/post-edit.g?blogID=9075782930909587991&postID=8505777700563995322&from=pencil' title='Post bearbeiten'>
<img alt='' class='icon-action' height='18' src='https://resources.blogblog.com/img/icon18_edit_allbkg.gif' width='18'/>
</a>
</span>
</span>
<div class='post-share-buttons goog-inline-block'>
<a class='goog-inline-block share-button sb-email' href='https://www.blogger.com/share-post.g?blogID=9075782930909587991&postID=8505777700563995322&target=email' target='_blank' title='Diesen Post per E-Mail versenden'><span class='share-button-link-text'>Diesen Post per E-Mail versenden</span></a><a class='goog-inline-block share-button sb-blog' href='https://www.blogger.com/share-post.g?blogID=9075782930909587991&postID=8505777700563995322&target=blog' onclick='window.open(this.href,

Dienstag, 27. August 2019

Deutscher Buchpreis 2019- Leseprobenheft Teil 2 (Grill, Köhler, Kühmel)

Die Longlist für den Deutschen Buchpreis ist da, es gibt wieder ein gratis Heft mit Leseproben (Hier gibts eine Liste der Buchhandlungen, in denen man es sich holen kann). Unter dem Motto "Testet die Anfänge" stelle ich mir bei jedem Text zwei Fragen:
1: Würde ich nach der ersten Seite weiterlesen? Ich persönlich entscheide normaler Weise immer spätestens nach einer Seite.
2: Würde (oder werde) ich nach der ganzen Leseprobe in diesem Heft weiterlesen ? 
Ich beantworte diese Fragen spontan und versuche dann herauszufinden, was es war, das mich zu diesen Entscheidungen gebracht hat. Das ist natürlich vollkommen subjektiv, hat nichts mit seriöser Kritik zu tun und ist auch noch von meiner jeweiligen Augenblicksverfassung abhängig. Umso mehr würde ich mich über  Kommentare freuen.

Ich bespreche die Proben in Dreierschippeln. Hier war Teil 1. Jetzt folgt Teil 2:





ANDREA GRILL Cherubino

1: nein

2: nein

1:Der erste Absatz irritiert mich gleich schrecklich: "Sie sah wieder aus dem Fenster. Grün, unerwartet grün, auch hier. Grashalme spiegelten sich in den Fliesen der Fensterbank, und da, auf den lanzettförmigen Silhouetten, lag der Stab. Er würde zeigen, ob sie recht hatte." Ich bin völlig ohne Orientierung: wo ist die Protagonistin? Und was ist das für ein mysteriöser Stab? Zwei Absätze später stellt sich heraus: die Frau ist auf dem Klo einer Konditorei und der mysteriöse "Stab" ist ein Teststäbchen von einem Schwangerschaftstest. Der wabernde Nebel der Unklarheit spiegelt dabei nicht etwa den Geisteszustand der Protagonistin wieder, sondern wird von einer auktorialen Erzählerin eingesetzt, die offenbar meint, Leser*innen, würden einen Text, bei dem man nur Bahnhof versteht, automatisch für literarisch wertvoll halten.

2: Prätentiös gehts auch weiter. Eine Erinnerung- nicht etwa ans Schwangerwerden- sondern an den Moment, als sie den Test gekauft hat- und wo nichts weiter passiert ist; als dass sie den Test gekauft hat. Allerdings: 
"Hinter der Apotheke ließ sich eine Landschaft ausklappen." Was soll denn das nun wieder heißen? Wieder kein Paralleluniversum, sondern ein Fenster, durch das sie eine Wiese sieht. Bilder, die so schief sind, dass man sich die einfachsten Dinge nicht vorstellen kann..... Ärgerlich. 

KAREN KÖHLER Miroloi 

Der Sturm, den die Nominierung dieses Buchs im Feuilleton ausgelöst hat, war so groß, dass es mir nicht gelungen ist, ihn zu ignorieren. Die Kritker*innen halten es in der Mehrzahl für unglaublich schlecht und weil so etwas für den Buchpreis nominiert ist, sehen sie die Welt der Literatur endgültig untergehen. Hier Marlen Hobrack im Freitag über die Kriterienkrise.
Ich war also natürlich gespannt, wie das klingen würde.

1: ja

2: vielleicht

1: Ich lese schon deshalb weiter, weil ich noch nichts so furchtbar Schlechtes gefunden habe, wie ich es nach der Aufregung in den Kritiken erwartet habe. Als Leserin folge ich dem  inneren Monolog einer jungen Frau, die in einem archaischen Dorf den Berg hinaufhumpelt. Die Beschreibung der Landschaft passt zu einer griechischen Insel. Die Frau ist ein Findelkind von "drüben", gilt als hässlich und ist ein Außenseiter, und ist innerlich voller Wut. Das finde ich erst einmal interessant. Und - ja- sprachlich ist das ein bisschen holprig, diese Frau soll gleichzeit einfach und doch poetisch denken, aber es entgleist seltener als manche andere Anfänge von Büchern auf der Longlist und hat einen schönen Rhythmus.

2: Obwohl es mir bisher (Seite 5) beiweitem nicht so missfällt wie dem Gros der Kritikerinnen, drängt es mich auch nicht wirklich zum Weiterlesen. Das liegt, glaube ich, daran, dass die Protagonistin die Zustände an diesem archaischen Ort von Anfang an schrecklich findet- und nicht nur ihre persönliche Lage. Sie hat in gewisser Weise einen Blick von außen, obwohl sie den Ort ja noch nie verlassen haben soll, und dadurch ist die Geschichte zu wenig glaubwürdig um mich hineinzuziehen.


miku sophie kühmel  Kintsugi

1: ja

2: ja 

1: Sprachlich ist das schon wieder ein überinstrumentierter Text voller gesuchter Formulierungen. (Es scheint eine Trendwende zu geben, die lakonische Hemingway Sprache, die jahrzehntelang state of the art war, scheint bei den Debütant*innen passé zu sein. Schade) ABER: hier gibts eine interessante Konstellation. Zwei Männer in den Dreißigern kommen in ihrem Wochenendhaus an. Sie sind schon länger ein Paar, nett und kultiviert, aber unterschwellig gehen sie sich gegenseitig schon gehörig auf die Nerven.  Da will ich sofort wissen, wie es weitergeht.

2: Alles wie bei 1. Die Sprache immer noch überladen- dann auch noch vom Lektorat übersehene Wiederholungen- aber die Spannung zwischen den beiden Männern steigt. Zuerst ist man in den Gedanken des einen, den die minimalistische  Feng-shui Ästhetik seines Freundes schön langsam in den Wahnsinn treibt. Und gerade rechtzeitig, kurz bevor man den Feng-shuianer überhaupt nie mehr würde leiden können, wechselt man in dessen Innenperspektive, aus der natürlich alles ganz anders aussieht. Das Drama des ganz normalen Lebens- auf Seite 5 will ich immer noch wissen wies weitergeht und habe mich daran gewöhnt, die Adjektivhäufchen zu überlesen.

Hier gehts weiter zu Teil 3.

 

Freitag, 23. August 2019

Deutscher Buchpreis 2019- Leseprobenheft zur Longlist. Teil 1


 Die Longlist für den Deutschen Buchpreis ist da und es gibt wieder ein gratis Heft mit Leseproben aus den 20 nominierten Büchern. Hier gibts eine Liste der Buchhandlungen, in denen man es sich holen kann. Ich habe meins wie immer aus der Buchhandlung OCELOT in der Berliner Brunnenstraße.

Ich werde wieder die 20 Buchanfänge lesen und je zwei Kommentare abgeben:

1: Würde ich nach der ersten Seite weiterlesen? . Ich persönlich entscheide normaler Weise immer spätestens nach einer Seite.

 2: Würde (oder werde) ich nach der ganzen Leseprobe in diesem Heft weiterlesen ? Die Proben scheinen immer die tatsächlichen Buchanfänge zu sein und sind jeweils ca. 5 Seiten lang.
Falls ich schon etwas über die Bücher weiß- zB schon Kritiken gelesen habe-  werde ich versuchen, es bei der Lektüre der Anfänge zu vergessen. Nur eins der Bücher ("Herkunft" von Sasa Stanisic) habe ich schon zur Gänze gelesen- da werde ich versuchen, mich an das erste Lesen des Anfangs zu erinnern.

Ich werde spontan entscheiden, ob ich weiterlesen will und dann "in mich gehen" und kurz beschreiben, wie meine Entscheidung zustande gekommen ist.

Wenn ich alle durchhabe, werde ich meinen Tipp für die  Short-list abgeben. Über Diskutanten, Mit-  und Gegentipper in den Kommentaren würde ich mich freuen!

Ich gehe nach der Reihenfolge im Buch vor. Die ist alphabetisch.

NORA BOSSONG   Schutzzone

1: ja

2: ja

1: Der Text nimmt mich sofort für sich ein, trifft den richtigen Ton. Eine Person spricht vom Ankommen in Burundi im Jahr 2012; davon, wie unterschiedlich die Menschen das Land wahrnehmen: 
".. und die einen sahen zuerst die Schönheit der grünen Hügel, die anderen den Konvoi mit den Flüchtlingen, die zurückgeführt wurden, und keine Meldestelle hatte offen, sie wurden einfach von der Laderampe ins Nichts entlassen, und das Nichts war ebenfalls grün, und das Grün war schön, man möchte mit der Hand über die Hügel streichen, so schön sind sie, wie über die Wange eines Geliebten...".
Die Stimme vermittelt sehr eindrücklich das gleichzeitige Eintauchen in eine menschenfeindliche, chaotische Situation und in die magische Schönheit Afrikas. Indem die Erzählerin lange nur von "den einen" und "den anderen" spricht,  bevor das erste Mal ein "ich" auftaucht, zieht sie mich in die Widersprüche hinein und in die Unmöglichkeit überhaupt noch ein konsistentes Gefühl zu haben.  Wie sie mitten im Satz vom Imperfekt in die Gegenwart rutscht:  "..und das Grün war schön, man möchte mit der Hand über die Hügel streichen, so schön sind sie"- das erwischt mich sofort- ich will weiter hören, was sie erzählt. 

2: Es geht genauso an- und hineinziehend weiter: scheinbar ungeordnet bekommt man eine Menge Informationen: Burundi, sie war Teil einer UN Kommission, "damals dachten wir noch..." Menschenrechtsverletzungen, ein Tribunal, ein Abgeordneter, den sie für einen von den Guten hält, eine Frau, die ihre Hand hält und sagt: "Aber es wird ein Urteil geben?". Die Fakten erscheinen nur spärlich und diskontinuierlich im Text, dessen eigentliches Thema ihr Bewusstseinszustand zu sein scheint. Auch das gefällt mir sehr, dass ich nicht belehrt werde. Ich schaue bei Wikipedia nach, wie 2012 die Lage in Burundi war- bin angeregt und interessiert- und habe beschlossen, das Buch zu lesen.


JAN PETER BREMER  Der junge Doktorand

1: nein

2: nein

1: Der Tonfall irritiert mich. Zwar gibts Gründe für das tüddelige Biedermeiern mit den viel zu vielen Adjektiven- es ist Rollenprosa einer ältlichen Dame, aber die Dame ist nicht allein Schuld,  ich spüre den Autor, der ihr über die Schulter schaut, sich dann zu mir, der Leserin, umdreht, und möchte, dass ich über seine Figur schmunzle. Und: nein danke!  Schmunzeln will ich nicht.

2: Es bleibt auch auf den nächsten Seiten so. Es stellen sich zwar  schon eine paar Fragen, die einen zum Weiterlesen bringen könnten, wenn man sich denn für die beiden Figuren- die ältliche Dame und ihren Gatten- interessieren würde. Tu ich aber leider nicht, sie gehen mir auf die Nerven und ich verlasse sie bei nächster Gelegenheit. 

RAPHAELA EDELBAUER  Das flüssige Land

1: ja

2: nein

1: Auf der ersten Seite wird man von einer Metaphernlawine überrollt, dass einem die Hirnwindungsknie nur so schnackerln. Der oder die Erzählerin- Geschlecht noch nicht definiert (find ich gut!)- geht durch seinen Heimatort, der über einem gigantischen Hohlraum steht und dessen Gebäude immer mehr absacken. Dieses Loch ist in einem einzigen Absatz beschrieben als "wie ein unterirdisches Myzel", "ein unter der Gemeinde schwelendes Aneurysma", "ein Abyss", "ein unendliches Ausatmen des Landes, dessen Brustkorb sich bis an die Rippen senkte" (wie soll das gehen? der Brustkorb wird durch die Rippen gebildet ...) usw. Das geht also öfter schief als dass es klappt und kaum sitzt ein Bild, wird es schon vom nächsten erschlagen. Allerdings gefällt mir das Ambitionierte und die unerschrockene sprachliche Krafthuberei. Ich lese weiter um zu sehen wo das hinführt.

2: Leider geht es auf den nächsten vier Seiten so weiter- nach einem kurzen Einschub, in dem der oder die Erzählerin in der Apotheke große Mengen Codein kauft und ich auf den Beginn einer Handlung hoffe, kehrt der Text zurück zum Metapherngeröll über Abgrund und Höhle. Jetzt wirds mir zu lang und ich will nicht mehr weiterlesen. Hätte ich das ganze Buch, würde ich allerdings nach vor blättern und schauen, ob es mich zehn Seiten weiter doch noch interessiert.


Dienstag, 7. August 2018

Ab jetzt: Bonusmaterial zu Nachtkritiken

Ich schreibe nun seit zweieinhalb Jahren Theaterkritiken für die Seite nachtkritik.de. Diese Kritiken werden direkt in der Nacht nach einer Premiere verfasst und müssen um sieben Uhr Früh in der Redaktion eintreffen. Um 9 Uhr stehen sie dann im Netz- Samstag und Sonntag um 10:00. Sie sollten die Länge von 4.500 Zeichen nicht überschreiten, das scheint genug Platz für eine ausführliche, fundierte Besprechung zu sein- nur ist das Eindampfen eines Textes auf eine verlangte Länge der schwerste Teil des Schreibens, jedenfalls für mich.  Ungefähr eine Stunde vor dem Abgabetermin schaue ich meist auf den Wortzähler, ich bin da schon völlig übernächtigt, alles ist von weißen Flimmerlinien umrahmt, und sehe unter "Zeichen mit Leerzeichen" mit Entsetzen eine Zahl irgendwo zwischen zehn und fünfzehntausend. Mehr als das Doppelte vom Erlaubten! Torschluss panik. Ich werde es nicht schaffen, all das was ich unbedingt sagen wollte, unterzubringen. Binnenkürzungen reichen nicht, ein oder sogar zwei große Gedankenblöcke müssen komplett raus. Was dann unter den Tisch fällt, sind oft Überlegungen, die mir in meinem dann schon halbdeliranten Zustand als die bedeutendsten vorkommen, und nahezu jedesmal, wenn ich die Kritik abschicke,-meist sind es immer noch 1000 Zeichen zu viel, was die diensthabenden Editoren zur Weißglut treibt, - ärgere ich mich furchtbar über mich selbst, dass ich das, was mir wichtig war, wieder einmal nicht unterbringen konnte. 
                  Am Anfang habe ich immer inständig gehofft, dass irgendein*e Kommentator*in mich missverstehen und mir die Möglichkeit geben würde, zu antworten und mich ausführlich über irgendwas auszubreiten, das ich in der Nacht hatte streichen müssen. Die menschenfreundlichen und langmütigen Redakteur*innen haben mich machen lassen, haben aber auch durchblicken lassen, dass sie das nicht gerade elegant fänden. Und 24 Stunden nach dem Erscheinen interessiert die Kritik ohnehin keinen mehr, außer vielleicht die beteiligten Künstler - und mich. Mir gehen diese nicht untergebrachten Reste und Gedankenfetzen oft tage- und wochenlang im Kopf herum. Deshalb werde ich ab jetzt ab und zu „Bonusmaterial“ zu meinen nachtkritiken auf meinem Blog veröffentlichen. Verspätet, unaktuell und unstrukturiert- für alle, die es vielleicht doch noch interessiert. 

Hier wird die aktuelle Liste der Bonuseinträge und der ursprünglichen Kritiken stehen. Den Anfang macht morgen ein Interview mit dem Komponisten Günther Rabl, dem Hausherrn des "Wirtshaus zur letzten Latern".

Sonntag, 10. September 2017

Deutscher Buchpreis Longlist Das Leseprobenheft Teil 4

Würde ich weiterlesen?
1: nach einer Seite
2: nach der Leseprobe im Heft
hier: Teil 1(Bonné, Falkner, Franzobel), Teil 2 (Helfer, Höthker, Lehr)Teil 3 (Lüscher, Menasse, Müller-Wieland)

JAKOB NOLTE  Schreckliche Gewalten

1:ja 
2:ja

Disclosure: In dem Fall habe ich tatsächlich sowohl nach einer als auch nach fünf Seiten weitergelesen, und dann auch gleich das Buch zu Ende. Da probiert einer mal was völlig anderes. Der erste junge Hund hier unter den ganzen alten Hasen und Häsinnen.
Es geht um die Lebensgeschichte der Zwillinge Iselin und Edvard, deren Mutter sich in einen Werwolf verwandelt und den Vater zerfleischt. Später stellt sich heraus, dass die Kinder selbst, genau wie sie befürchten- Achtung Spoiler!:  Shapeshifter sind.
Die Schwester wird Mitglied einer russischen Pussy Riot artigen Gruppe, der Bruder lebt später in einem Hyänenrudel. Nicht so ganz das übliche Milieu, in dem deutsche E-Literatur sich bewegt. Bei den Amerikanern gibts natürlich eine solide Lineage an Trash Romanen und Filmen in dieser Richtung. Es erinnert (und will - ehrgeizig- erinnern :-)) z.b.an die frühen Stories von David Foster Wallace, die Filme von Cronenberg, in letzter Zeit an die Geschichten von George Saunders. In Ö an die Geschichten von Clemens Setz. Und, na klar, an die vielen verschiedenartigen Shapeshifter in "True blood".
Stil: kann man auf zwei Arten lesen. Als Sprache, mit der da ein ziemlich angeberisches, komisches, speerspitzig junges Talent auf die Kacke haut, dass es nur so spritzt und doch immer cool bleibt. Oder als hochinteressanten Versuch die innere Konstruktion der Protagonisten in der Sprache abzubilden- also die Dinge so zu erzählen, wie Wesen sie erleben würden, die so intelligent sind wie Menschen, aber von der Gefühlskonstruktion den Tieren entsprechen, in die sie sich eventuell verwandeln. dh: amoralisch sind, aber loyal den Familienmitgliedern gegenüber. Alles, was mit Sex und Konkurrenz und Status und Familenbanden zu tun hat, ebenso leidenschaftlich verfolgen wie Menschen es tun - nur "romantisch glotzen" können sie schon von ihrer Konstitution her nicht.

Hochinteressante Etüde. Lustig auch. Und am Ende- im Hyänenrudel- dann auch noch unerwartet rührend.  Leseempfehlung. Für das Ganze.

Wünsche ich mir auf der Shortlist.

MARION POSCHMANN  Die Kieferninseln 

1: ja
2: nein

1: Ein Mann träumt, seine Frau hätte ihn betrogen. Glaubt felsenfest, dass der Traum ihm die Wahrheit gezeigt hat, stellt seine Frau zur Rede und verlässt sie. Sehr schöne Sprache, rhythmisierte Dialoge, die Sprache zieht einen weiter.

2: Die Sprache bleibt schön und ungewöhnlich. Trotzdem interessiert mich die Sache nach ein paar Seiten einfach nicht mehr. Schwer zu sagen warum. Vielleicht ist es ja auch die Zusammenstellung des Heft, vielleicht bin ich nach Werwölfen und allen Arten von Shapeshiftern von einem Mann, der nur im Flugzeug sitzt und von seiner Frau wegfliegt, einfach nicht zufrieden zu stellen.
Dieses Leseprobenheft hat seine Tücken, sobald man mehrere Texte hintereinanderliest, treten sie miteinander in Beziehung- was manchen nützt, anderen schadet.

KERSTIN PREIWUSS Nach Onkalo

1: nein
2: nein

Ein dröger Protagonist, ein Simpel. Geschrieben in diesem trocken sein wollenden Schreibschulstil. Nix für mich.