© Silvia Albarella
Die virtuelle und begehbare Performance „La strada molesta“ von Silvia Albarella ist etwas ganz Besonderes: eine 3D Welt, die nicht von einem Computerprogramm berechnet ist, sondern komplett von Hand gemalt. Und zwar zuerst als Entwurf jedes einzelnen Bildes- etwa wie ein gezeichnetes Storybord beim Film – diese Skizzen sind im Theater ausgestellt. Und dann noch einmal im Computer dreidimensional gemalt. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie das geht, aber es sieht aus wie Skulpturen aus Pinselstrichen.
Obwohl man die Reise in der virtuellen Welt allein unternimmt, ist es doch eine öffentliche Erfahrung. Es beginnt mit einer Einweisung für je zwei Besucherinnen durch eine Cyber-stewardess aus Fleisch und Blut (Yuko Matsuyama), die einem die Grenzen des Raumes erklärt, innerhalb derer man sich frei bewegen kann. Zwar kann man mit Hilfe eines Controllers, den man in der Hand hält, auch fliegen, aber für das Erlebnis ist das Selbst- Gehen wichtig. Es überzeugt nämlich das Gehirn wider besseres Wissen davon, dass, wenn die eigenen Schritten real sind, die Straße, auf der man sie tut, es auch sein muss. Man setzt die Brille auf und vor einem erscheint eine schwebende Gestalt im wein-roten Ballkleid aus sich bauschenden Pinselstrichen, der man ins Innere des Straßengewirrs folgt.
Diese Straße, die Strada molesta, belästigt die Menschen, bedrängt sie, hält sie in ständiger Alarmbereitschaft. Silvia Albarella beschwört in dieser Performance die Atmosphäre herauf, die im Neapel ihrer Kindheit geherrscht hat: die Gewalt, die in der Luft liegt, das Marktschreierische, Heißblütige, den Machismo. Dabei hat sie nicht nur die Straßen Neapels aus ihrer Erinnerung gemalt, sondern auch Fotos aus dem heutigen Neukölln benutzt, das sie in vieler Hinsicht an ihre Gefühle in Neapel erinnert. In den Straßenschluchten tauchen verschiedenste Wesen auf, Modefigurinen und Vogelscheuchen, riesige Monsterköpfe, fluoreszierende Geister. Während die meisten Schöpfer virtueller Realität versuchen, dass ihre Welt so echt wie möglich wirkt, plastisch, plausibel und realistisch, benutzt Silvia Albarella eine ganz andere Ästhetik. Alles ist Skizzenhaft hingeworfen. Die Hauswände, zwischen denen man geht, lassen einen keineswegs glauben, dass sich dahinter reale Häuser verbergen. Es sind Kulissen, bemalte, mit Fotos beklebte Stellwände. Geht man um sie herum, zeigen sie ihre Hinterseite: flirrend weiße Leere. Die Grenzen der Figuren scheinen durchlässig, sie fordern einen dazu heraus, sie auszutesten. Und wirklich kann man direkt in ihr Inneres hineingehen, die sinnvolle Gestalt zerfällt, man findet sich in einem Wald aus Pinselstrichen, vor dessen Fremdheit man sich ängstigen, in dem man sich aber auch beschützt fühlen kann.
Es gibt auch eine erzählende Stimme (Text: Maike Wetzel), die in einer unklaren Beziehung zur Straße steht. Sie spricht von Kindheitserinnerungen, von Gewalterfahrungen, aber sie stammt aus einem Land, in dem vor kurzem noch Krieg war, die Grenzen mit Blut markiert sind, also nicht aus Italien. Und es gibt eine Tonspur, mit Musik und Geräuschen: kreischende Bremsen eines Motorrads, ein Ball fliegt, ein Fenster zerbricht. Es gibt Splitter von Geschichten: ein Vater, der den Gürtel herausholt und zuschlägt, die dreckige, bunte Front eines Spielkasinos, die Fabel vom Frosch, der durch Strampeln Milch zu Butter macht und der sich so aus dem Krug retten kann, in den er gefallen ist.
Es sind Fragmente, die aufeinander antworten, sich widersprechen, oder schroff nebeneinanderstehen. Die fehlende Kohärenz zwischen Text, Ton und Bild treibt einen in eine rastlose Suche nach der Wirklichkeit hinter den Kulissen, die, so fühlt man, einfach da sein muss. Man beginnt unwillkürlich die vielen Leerstellen mit eigenen Erinnerungen und Träumen zu flicken und man gerät in einen Zustand, der erstaunlich nah an das Traumbewusstsein herankommt. Dabei fühlt man sich nicht wie in einem eigenen privaten Traum, sondern auf unklare aber bedeutungsvolle Weise als Bürger*in eines Raumes, in dem öffentlich geträumt wird. Silvia Albarella hat eine spannende künstlerische Vision des kollektiven Unterbewussten geschaffen.
Die Reise dauert nicht lang- 25 minuten- danach ist man merkwürdig erfrischt. Man fühlt sehr klar, dass man die Welt außerhalb der Brille ebenfalls selbst konstruiert, alles ist virtual reality- mit oder ohne VR Brille, kein inneres Bild kommt ohne die eigene Konstruktion aus. Man erinnert sich, was man in der Schule gelernt hat: dass alles aus Atomen und den Kräften zwischen ihnen besteht. Dabei kann man den nächsten beiden VR Touristen zusehen, wie sie mit ihren Brillen durch die Strada molesta schlendern, plötzlich zusammenzucken- wahrscheinlich weil ihnen die Monster begegnet sind, und wie sie sich ihnen tapfer stellen – oder in sie hineinkriechen.
Silvia Albarella hat ein Erlebnis kreiiert, das einen durch seine offene skizzenhafte Qualität in sein merkwürdiges Inneres hineinzieht und einen verändert. Ihr gelingt, was T.S. Eliot seinen Lesern im wüsten Lands verspricht: I show you fear in a handful of dust.