Weiter gehts mit dem dritten Teil des Leseprobentests. Ich frage mich 1: würde ich nach einer Seite weiterlesen 2: würde ich nach der Leseprobe im Heft das ganze Buch lesen wollen?
Hier war Teil 1 und hier Teil 2.
Angela Lehner Vater unser
1:ja
2:ja
1und 2 : Perfekt für mich - und sicher auch für viele Andere. Für das Thema bin ich Spezialistin: Die Icherzählerin ist eine junge, eloquente Manikerin, die gerade in der Psychiatrischen Anstalt eingeliefert wurde und jetzt das Erstgespräch mit ihrem zuständigen Arzt führt. Ich kenne sowohl die Wiener Psychiatrie - das berühmte Otto-Wagner-Krankenhaus "Am Steinhof"- von innen, als auch das Kopfrasen in der Manie. Wäre da irgendwas in meinen Augen "nicht ganz richtig", würde ich sofort herumpingeln. Ist es aber nicht, Angela Lehner trifft alles perfekt. Wie die Icherzählerin sich innerlich über alles lustig macht, den Arzt an der Nase herumführt (denkt sie jedenfalls), ohne jedes Gefühl für die Mieslichkeit ihrer Lage die ganze Anstalt in einen grandiosen inneren Vergnügungspark für sich selbst und die Leser*innen-komplizen verwandelt- das ist herrlich. Nach fünf Seiten ist noch alles möglich: das kann so lustig weitergehen oder irgendwann in eine furchtbare Katastrophe kippen- mir wäre beides Recht. Das Buch ist schon bestellt! (Und inzwischen auch für den Österreichischen Buchpreis nominiert.)
EMANUEL MAESS Gelenke des Lichts
1: jein
2: ja
1: Da sitzt ein Icherzähler und plaudert mit sich selbst über den Mond. So gehts los: "Vor einigen Jahren, als ich einen Abend lang vergeblich auf Dich wartete, ergab sich die Gelegenheit, wieder einmal einem Mond zuzusehen." Ihm ist also romantisch zu Mute und dann ironisiert er das sofort wieder- in endlosen und in der Mehrzahl tatsächlich gelungenen Wendungen. Das ist eine sprachliche Angeberei höchster Güte- denn natürlich ist es schon schwer, auch nur einen einzigen Satz über den Mond zu schreiben, der nicht völlig abgedroschen ist- geschweige denn drei (!) Seiten über nichts Andreres herumzumäandern. Man kann und muss schon den Hut ziehen- andererseits ist es natürlich so eitel und leer und unangemessen für die Figur- die ein noch sehr junger und sehr verliebter Bub sein soll- dass das in seiner Verkehrtheit nervt, aber man kann es auch schon wieder lustig finden. Ein sehr langer manieristischer Sermon eben.2: Seite zwei und drei: immer noch Mond. Gekonnt, wie der Autor Vorwürfe, von denen er ahnt, dass die Leser sie machen werden, vorwegnimmt und sie seinerseits an den Mond richtet:
"Gelassen und ein wenig selbstgefällig ging er über meiner wachsenden Ungeduld..auf". ... "Vielleicht schleppte er ein bisschen viel Biedermeier mit sich herum und für den Anlass zu grelles Silber" ("Oh ja!!! Allerdings!"denkt die Leserin- und muss dann natürlich lachen. Noch mehr Mond hätte ich nicht mehr vertragen. Muss aber aus sehr persönlichen Gründen weiterlesen: auf Seite 4 erfährt man endlich, wo der Junge ist: in einem heruntergekommenen Strandhotel, in den 80er Jahren, das in der DDR zu einem Arbeiterferienheim umfunktioniert wurde. Da der Roman, an dem ich schreibe, "Grand Hotel Walfisch", in einem heruntergekommenen Strandhotel spielt, das in der DDR zu einem Arbeiterferienheim umfunktioniert wurde, (allerdings ist "meins" ein ehem. Grandhotel mit einer phantastischen Kuppel!) muss ich jetzt natürlich weiterlesen. Tatsächlich beginnt mich der Roman jetzt auch zu interessieren- ob das auch Leuten so geht, die nicht gerade selbst über so ein altes Strandhotel schreiben, kann ich nicht beurteilen- dazu fehlt mir die nötige Distanz.
alexander osang Die Leben der Elena Silber
1:ja
2:ja
1: "Sina Krasnowa schob die letzten Scheite in den Ofen, als sie draußen in der Stadt ihrem Mann einen Holzpfahl in die Brust schlugen." Na, das ist jedenfalls ein entschlossener Anfang. Nicht drauf aus, zu zeigen, wie fein der Autor Sätze drechseln kann, sondern dazu da, die Leser*innen mit sofortiger Wirkung zu beeindrucken und zu fesseln. Und das funktioniert auch.
2: Der Anfang spielt in Russland - wahrscheinlich vor der Oktoberrevolution. Nach etwa drei Seiten springt die Erzählung nach Berlin in die Jetzzeit. Wahrscheinlich ist das dieselbe Familie- die Geschichte der Großeltern damals und des Enkels jetzt. Ein Panorama des Jahrhunderts also. Der Stil: fast nur Hauptsätze, eine schnelle folge, eingängige Bilder, "süffig"- das ist ein Unterhaltungsroman. Und als solchen will ich ihn auch gern lesen.
Mein Ergebnis zur Halbzeit:
Bisher hat mich keiner der Buchanfänge so begeistert, dass ich gedacht hätte: das ist es! Das muss den Buchpreis bekommen. Auf die Shortlist wünsche ich mir bisher die Bücher von Nora Bossong und Angela Lehner.
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