Dienstag, 8. September 2015
Gespenster 1: Mehr über Nabokov, "Stadtführer Berlin" als über Frank Witzels "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969".
"Hast du gesehen?" fragt mich eine Freundin, "Witzel ist auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis!" Sie weiß, dass ich es seit Wochen aufschiebe, über Witzels Buch zu schreiben. Ich mokiere mich über die Kritiken, die bisher erschienen sind, behaupte, die Kritiker hätten alle nur die ersten hundert Seiten gelesen, man könne das Buch überhaupt nicht lesen! Witzel, behaupte ich, habe zwar eine herrliche Sprache (selten genug! ja! Preiswürdig, lobeswürdig usw,), Witzel sei auch witzig (bringt ja sonst keiner diesen zutreffenden Kalauer), aber dieses Ding, dieser Ziegel von einem Buch, (wäre es nicht so extrem eng gedruckt, dann wären das wahrscheinlich 2000 Seiten), sei im Ganzen total missglückt, eine Ansammlung von Zirkelschlüssen, ein Monster, das sich in den Schwanz beißt und damit kokettiert, weil es nichts Anderes zum Kokettieren oder Beißen oder sonst was hat als sich selbst, eine bloße Fallstudie über Denkstörungen bei einer Depression, geschrieben von einem sprachlich brillanten Menschen, aber nichts desto trotz bedrückend, entsetzlich - und letztlich unlesbar.
Meine Freundin blieb ungerührt, fragte, warum ich mich so aufrege- und hat das Buch ,Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, inzwischen fast zu Ende gelesen. Das mit der Perseveration, den Zirkelschlüssen usw. gibt sie zu, sagt, sie freue sich dafür an vielem Anderem, zum Beispiel an den ausgezeichneten Beschreibungen von Landschaften und Orten.
Wirklich? Landschaftsbeschreibungen? Dafür fehlt mir jegliche Ader. Insgeheim habe ich den Verdacht, dass die meisten ihre Freude an Naturschilderungen nur vortäuschen. Andererseits: warum sollten sie das tun? Das bringt ihnen ja keinen Vorteil. Im Buch von Witzel erinnere ich mich überhaupt nur an eine einzige Landschaft, ganz am Anfang, als es auch noch Handlung gibt: drei Teenager, jene Kids die eine Bande namens Rote Armee Fraktion gegründet haben, haben ein Auto geklaut, mit dem sie genau fünf Kilometer weit fahren, von Biebrich, wo sie herkommen, in den nächsten Ort. Die Straße geht einen Hügel hinunter, insofern Landschaft. Dass es nach Seite 100 noch Landschaft gibt, die ich überlesen hätte, kann ich mir nicht wirklich vorstellen, weil der Erzähler nämlich immer nur Zwiegespräche führt, wobei sein Gesprächspartner wahlweise ein eingebildeter Psychiater, eine imaginäre Freundin namens Gernica oder ein Mann vom Verfassungsschutz ist, der wahrscheinlich auch eingebildet ist. Weil diese 700 Seiten Diskussion also komplett im Kopf des Erzählers stattfinden, gibt es da auch keine Landschaften (ich kann nicht ausschließen, dass es doch auch nach Seite 100 noch ein paar Erinnerungsfragmente aus seiner Teenagerzeit gibt, die noch eine örtliche und zeitliche Zuordnung haben, also Biebrich, Landstraße, und einmal fährt er auch in die DDR.)
Natürlich ist meine Phantasie voll von Orten, die ich nur aus Büchern kenne, Wuthering Heights, Twelve Oaks, die Ngong Berge, Himmel über Wüsten , Meere über Walen, aber die meisten ich durch die Augen der jeweiligen Protagonisten gesehen, die auf ganz andere Dinge aus waren als auf leidenschaftslose Kontemplation.
Ein Gegenbeispiel ist Nabokov, ich beschäftige mich gerade mit Gespenstern, da ist er mein Lieblingsautor, und wirklich, in "Frühling in Fialta" ist Fialta schon lange da, bevor überhaupt ein Erzähler auftritt
Der Frühling in Fialta ist wolkig und trüb. Alles ist feucht: die scheckigen Stämme der Platenen, die Wacholderbeersträucher, die Geländer, der Kies.
Ich suche ein bisschen in seinen Erzählungen und finde gleich eine kurze Geschichte, die wie eine direkte Antwort auf meine Frage ist, wie eine Schilderung von Orten interessant sein kann, ohne dass diese Kulissen für eine dramatische Handlung sind.
In „Stadtführer Berlin“- will der Erzähler über ein paar typische, pittoreske Berliner Eigentümlichkeiten schreiben, über die Kneipen, die Straßenbahn usw. Er unterhält sich mit einem Freund, der ebenso indolent ist, wie ich es bin.
„Wen interessiert das“, sagt mein Freund mürrisch, „wie du eine Straßenbahn nimmst und ins Berliner Aquarium fährst?“.
Ja, genau meine Frage. Warum sollte mich so etwas interessieren? (Hingegen interessiert mich die Frage, warum es mich interessieren sollte, und schon hänge ich am Haken).
Die beiden Herren, Nabokov und sein von Stadtbeschreibungen gelangweilter Freund, führen diese Diskussion in einer typischen Altberliner Kneipe , in deren Mitte ein Billardtisch steht. Ganz im Hintergrund kann Nabokov durch einen Durchgang in die Wohnung des Wirts hineinsehen. Dort sitzt eine Frau und füttert ein blondes Kind mit Suppe. „Was gibt’s denn da zu sehen?“ fragt der Begleiter. Nabokov sieht, wie das Kind zu ihnen herüber schaut:
„Von seinem Platz aus kann es die Kneipe sehen, das grüne Eiland des Billardtisches, den Elfenbeinball, den es nicht berühren darf, den metallischen Glanz der Theke. Was immer ihm im Leben auch zustoßen wird, immer wird es sich an das Bild erinnern, das es aus dem kleinen Zimmer, wo es seine Suppe bekam, in seiner Kindheit Tag für Tag sah. ... „Ich begreife nicht, was du da siehst“ sagt mein Freund und wendet sich mir wieder zu. Ja, was auch! Wie kann ich ihm begreiflich machen, dass ich jemandes künftige Erinnerungen geschaut habe?
Die Nähe zur Proust'schen Madeleine ist offensichtlich. Und mir ist außer Nabokov auch Proust eingefallen, bei der Frage, wann ich mich handlungsunabhängig über Landschafts- oder Gegenstandsbeschreibungen freuen kann. Bei Proust ruft zum Beispiel die Kirche in Combray, genau wie die Madeleine, eine epiphanische Kindheitserinnerung auf. Und das beweist ihm, dass das ganze Universum seiner Erinnerungen, der „verlorenen Zeit“ überhaupt nicht verloren ist, sondern zugänglich; nichts ist vergangen, alles noch da und kann wiedergewonnen werden. Die Kirche, die Madeleine, das Pflaster im Hof der Guermantes sind Hebel, durch die sich Geheimtüren in den Wänden der Zeit öffnen lassen, hinter denen das Reich der Kindheit liegt, ein ewig unvergängliches Paradies. Für einen solchen Rausch der Erinnerung muss man aber als Kind wohl ebenso symbiotische Glücksmomente erlebt haben, wie der kleine Marcel mit seiner schönen Maman. Proust behauptet allerdings, er habe so etwas wie eine allumfassende Methode gefunden, die Zeit aufzuheben und damit die Vertreibung aus dem Paradies und mit ihr die Sterblichkeit rückgängig zu machen. Nabokov nennt sein Buch, das auf der Liste seiner insgesamt vier (!) wichtigen Bücher des 20. Jahrhunderts steht, deshalb "the nice fairy tale of Mr. Proust" . ( Die anderen drei sind "Ulysses" von Joyce, Petersburg von Bely, und "Die Verwandlung" von Kafka).
Auch Nabokovs Figuren sind besessen von der Sehnsucht nach verlorenem Kinderglück, aber bei ihm gibt es keine Rückkehr ins verlorenes Paradies (was vielleicht damit zu tun hat, dass das vorrevolutionäre Russland seiner eigenen Kindheit für immer verschwunden war). Als Autor bleibt er kühl. Seine Beschreibungen sind öfter wie Photographien, wie Filmstills in denen die Sehnsucht der Figuren in der Luft schwebt wie Rauch.
Das Kind, das hinaus schaut in den Saal mit dem glänzenden Billardtisch- „das grüne Eiland“- die Kugel „ein Elfenbeinball, den es nicht berühren darf“, dahinter „der metallische Glanz der Theke“. Nabokov benutzt den sehnsüchtigen Blick des Kindes als Scheinwerfer, mit dem er die schmuddelige Kneipe beleuchtet- er möchte sie dem Leser so zeigen, wie sie sich in die Seele des Kindes einprägt, als Verheißung einer großen weiten Welt voller Abenteuer, die sich in dieser Kneipe niemals manifestieren wird- außer in der Phantasie dieses Kindes, in der sie eingeschlossen bleiben wird wie ein Insekt in Bernstein.
Das Ganze ist eigentlich ein postmoderner Trick- eine Escher'sche Hand oder Treppe, denn Nabokov hat seinen eigenen Antrieb verschwinden lassen, und so sieht es aus wie ein Perpetuum mobile. Die Energie, die den Tisch leuchten lässt, kommt ja aus der Sehnsucht des Kindes. Das ist eine in die Zukunft gerichtete Kraft, die sich auf die Verwirklichung der Sehnsucht richtet. Aber eben diese Zeitdimension hebt die Geschichte auf.
Denn vor dem Billardtisch sitzt der Erwachsene, der so alt ist wie das Kind es einmal sein wird, wenn es sich an den Tisch erinnert, er sieht also quasi schon den zukünftigen Tisch, und der ist so schäbig und langweilig, dass er eben gerade nur durch die Sehnsucht des Kindes interessant werden kann. Aber das Kind ist vom Erzähler erfunden, der ja schon weiß, dass seine Sehnsucht nicht erfüllt werden wird- er sieht die Träume, die einmal seine eigenen waren, die sich nicht erfüllt haben, er sieht ihre Vergeblichkeit,aber um ihre Kraft benutzen zu können, darf er von der Enttäuschung nichts wissen....
Bis vor Kurzem hätte ich noch gedacht, dass es durchaus nicht deprimierend sei, das Unerfüllbare an Sehnsüchten zu entlarven, im Gegenteil. Ich hätte argumentiert, dass man nur so ihren innersten Kern freilegen könne, in dem immer etwas Verwendbares stecke, das man aus den Illusionen heraus schälen müsse; den utopischen Kern. Genau das sei die Hauptaufgabe der Kunst dachte ich früher. - Wunderbar beschrieben ist das in Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung“. Das ist der Glaube, den ich verloren habe- und ohne den ich nun nicht weiter weiß. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn verloren habe, weil das, woran ich da geglaubt habe, an einen utopischen Kern, der tief in allen menschlichen Verhältnissen steckt, tatsächlich nur Einbildung war (ich denke, dass es so ist), oder vielleicht nur deshalb, weil es für die Erfüllung der meisten Sehnsüchte, für mich ganz persönlich zu spät ist (aber nicht notwendiger Weise für die ganze Welt); oder ob es sogar nur ein banale, private Depression ist ( was erklären würde, wieso mich depressive Gedankenschleifen, wenn ich sie bei anderen Autoren erkenne, so wütend machen – s.o. Witzel !!!)
Nabokov hat solche Gedanken verachtet. Utopien und Sozialkritisches hatten für ihn in der Kunst nichts verloren. Der Inhalt der Sehnsucht kümmert ihn nicht, er benutzt nur ihre Kraft als Treibstoff. Er ist ein reiner Ästhet. Deshalb ist er auch völlig mitleidlos. Er bemitleidet den Jungen nicht dafür, dass das grüne Eiland des Billardtisches niemals zu einem Tablett werden wird, auf dem ihm das Schicksal Abenteuer serviert. Aber was noch bemerkenswerter ist: er ist auch sich selbst gegenüber eiskalt. Denn schließlich kennt er die Sehnsüchte des Jungen nur deshalb so gut, weil er ihn erfunden hat. Den schäbigen Billardtisch gab es wohl wirklich, den Jungen aber hat er sich ausgedacht um den Billardtisch zum Leuchten zu bringen. Dessen Sehnsüchte sind solche, die Nabokov selbst in diesem Alter hatte und sie haben sich nicht verwirklicht, werden es auch nicht, weil er das Land in dem er sie sich erträumt hat verlassen musste. Aber diese traurige Tatsache ist ihm gerade recht um damit den Filz des Tisches zu unterfüttern und die Kugel zu polieren. Genau wie Thomas Mann verwendet er mit Vorliebe schmerzhaft unerfüllbare Wünsche als Treibstoff. Eiskalt.
Aber wie macht er das? Was treibt ihn? Erfolg. Aber nicht nur der äußere. Er hat einen eigenen Maßstab. Kein Sinn. Kein Gott. Kein besseres Leben. Keine Liebe. Was?Was ist reine Ästhetik? Weder glaubt er an eine Welt, in der diese Sehnsüchte wahr werden könnten, für ihn und für mich and the entire human race, noch interessiert sie ihn. Und doch steht ihm die ganze Kraft des Wunsches zur Verfügung. Und ein wenig vom Schmerz über die Unerfüllbarkeit als wohlkontrollierte Glasur. Unbegreiflich. Irritierend. Aufregend genug um immer wieder zu seinen Geschichten zurückzukehren. Zu manchen von ihnen dutzende Male.
Da: da ist die Lösung versteckt:
Nabokov seeks in life - in words and in lepidopetry - "the chance that mimics choice, the flaw that looks like a flower."
(wird fortgesetzt)
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