Ich muss von meiner teilweisen Kapitulation berichten. Je mehr Buchanfänge ich gelesen habe, desto unwirscher wurde ich. Ich wollte weniger und weniger drüber nachdenken, warum mir etwas nicht gefällt, mich nicht hineinzieht - und noch weniger wollte ich es formulieren. Bei den Buchanfängen, die ich mochte, wollte ich hingegen lieber sofort dieses Buch weiterlesen als nach einem neuerlichen Interruptus gleich wieder zum nächsten Anfang hüpfen. Das habe ich auch getan- ich habe inzwischen drei der Bücher gelesen (zwei davon, Saša Stanišić- "Herkunft" und Angela Lehner "Vater unser", mochte ich sehr. Ulrich Woelks"Der Sommer meiner Mutter" hat mich nach einiger Zeit immer weniger überzeugt und zuletzt geärgert. Nora Bossongs "Schutzzone" bekomme ich in den nächsten Tagen und bin schon sehr gespannt)
Ich bespreche also nur noch ein paar Buchanfänge aus der zweiten Hälfte des Leseprobenhefts und werde dann- erleichtert- zum Lesen ganzer Bücher zurückkehren. Gelernt habe ich, dass mir die Stimme, der "Sound", eines Buches das Allerwichtigste ist, wenn ich die Autorin noch nicht kenne. Es ist wie ein erstes Rendezvous- entweder jemand ist mir sympathisch oder eben nicht. Damit meine ich nicht, dass mir die Figur des Erzählers oder die Hauptfigur sympathisch sein muss, sondern direkt der Autor oder die Autorin- und die muss "zu ihrer Stimme gefunden haben", damit ich sie überhaupt erkennen kann. Bei zwei Drittel der Buchanfänge in diesem Heft ist das nicht der Fall. Ich habe das Gefühl, dass sich da jemand verstellt, verrenkt, herumtüdelt, um mir oder irgendwelchen phantasierten Kriterien zu genügen, so dass ich ein wenig peinlich berührt bin und das Rendezvous so schnell wie möglich beenden möchte. Und ich merke auch, dass ich älter und verzopfter werde, ohnehin nur noch bereit bin, mich auf neue Autorinnen einzulassen, wenn "meine" Schriftsteller, die ich als meine Freunde betrachte, zu lange nichts Neues liefern und ich ohne Stoff dastehe. Frisch verlieben kann ich mich leider nur noch selten (zuletzt in Helen Oyeyemi- ist aber noch nicht heraus, ob es etwas Festes wird)- und bei den diesjährigen Gelonglisteten war diesbezüglich keine Kandidatin für mich dabei.
Hier also eine Auswahl aus der zweiten Hälfte- 1 meint immer, ob ich nach einer Seite weiterlesen würde 2 ob ich nach der ganzen Leseprobe gern weiterlesen würde.
Tonio Schachinger - "Nicht wie ihr"
1: ja
2: ja
1: Das Innenleben eines österreichischen Fußballprofis- fiktiv, aber mitten unter die "Echten" hineingemischt. Das mag ich schon mal sehr, die Mischung aus echten Personen des öffentlichen Lebens und einer da hineinverpflanzten fiktiven Figur. (Habe ich bei Bolano lieben gelernt). Sehr direkter Ton, witzig-lakonisch, Wienerisch (obwohl hochdeutsch, aber in der Melodie der Sätze erkennbar- wir Österreicher*innen sind ja patriotisch und freuen uns wenn wir unsere Sprache lesen)2: Die Hauptfigur wird einem schnell sehr sympathisch und im selben Zug wird klar, dass der Kerl ein übler Macho ist, überheblich usw.- sehr gut gemacht- bin schon mit ihm befreundet und er geht mir schwer auf die Nerven- ganz wie ein echter Freund also.
Norbert Scheuer "Winterbienen"
1: ja
2: nein
(Fingierte) Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 44/45. Der Mann beschreibt, wie er mitten im Krieg Bienen züchtet, beschreibt seine Familie, Vater und Großvater waren ebenfalls Bienenzüchter, die Landschaft, die Auswirkungen des Krieges. Alles in sehr schöner Sprache- es birgt auch ein Geheimnis, das scheint mir ein wirklich sehr guter Text zu sein- nur leider nicht für mich. Für mich ist das einfach zu ruhig, zu undramatisch, ich kann aber spüren, dass das in diesem Fall ganz und gar an mir liegt und dass das ein Buch ist, das hohe Qualität hat und vielen Menschen gefallen wird.Saša Stanišić "Herkunft"
1 und 2: ja und ja und habs auch schon getan
Stanišić ist das, was man im alten Sprachgebrauch als "geborenen Erzähler" bezeichnet. Er kann von allem und jedem so lebendig erzählen, dass man die Personen vor sich sieht, er übertreibt gerade soviel, dass man alles lustig und interessant findet und es gerade noch so glauben kann. Er ist ein Kaffeehaus oder Wirtshauserzähler, und man will sich jederzeit zu der Gruppe gesellen, die sich um ihn schart, will erfahren, was seine demente Großmutter alles erzählt und was sie vergessen und wie neu zusammengebastelt hat. Dies ist gar kein richtiger Roman, sondern eine Mixtur aus Familiengeschichten und einem Essay über Herkunft- und ich widerspreche ihm bei so ziemlich jeder seiner Erkenntnisse, und zwar während ich es lese "Blödsinn!" sage ich laut- "du widersprichst dir und merkst es nicht einmal!"- streite also laut mit ihm und lese weiter- eine sehr angenehme Leseerfahrung!Jackie Thomae "Brüder"
1: ja
2: nein
1: Angenehmer, lakonischer Ton...2:... aber etwas fehlt. Der Junge, von dem da erzählt wird, interessiert mich einfach noch nicht genug. Ist nicht mein Typ - so ein cooler kurz vor Ende DDR. Vielleicht bin ich aber eben auch nur buchanfangsmüde- s.o. Ich werds in ein paar Wochen nocheinmal probieren,
Ulrich Woelk "Der Sommer meiner Mutter
1: ja
2: ja
"Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben." Schockierender Anfang - die Erzählung springt zurück, der dreizehnjährige Sohn ist Icherzähler- und am Anfang ist die spießige Kleinfamilienidylle in einem Vorort von Köln natürlich deshalb interessant, weil man weiß, dass in wenigen Monaten dieses Unglück hereinbrechen wird. Der Junge ist extrem naiv, macht in diesem Sommer seine ersten sexuellen Erfahrungen und begreift weder was in ihm selbst vorgeht, noch was mit den Erwachsenen los ist. Das ist am Anfang plausibel, aber dann wird es immer konstruierter. Von mir selbst und vielen Anderen kenne ich die drängenden Fragen, die man am Beginn der Pubertät über alles hat, und dass dieser Junge so gar keine Neugier über das Innenleben der Menschen entwickelt, wirkt zunehmend enervierend, irgendwann eitel und letzlich einfach falsch. Die zu Anfang gewährte Suspension of disbelief nehme ich als Leserin wieder zurück.