Dienstag, 28. April 2015

Kertész gelesen. gelacht.


Zwischenbemerkung zum Text zum Tod von Günter Grass


Während ich mich abmühe, herauszufinden, was ich denn da unbedingt noch sagen will, über Grass und darüber, was ihm in der Blechtrommel gelungen ist (nämlich, nicht nur die halbe Welt sondern auch jemanden zu erreichen, für den kein anderer Roman über die Zeit des zweiten Weltkriegs jemals irgendeine Berechtigung gehabt hat: meinen Vater)- und während ich versuche zu verstehen, woran es liegt, dass Grass später nie mehr etwas Derartiges gelungen ist, - während ich also um und um und herumdenke, lese ich einen Text von Imre Kertész aus dem „Galeerentagebuch“. Und die folgende Stelle ist so großartig, dass ich sie hier einfach komplett abschreiben muss. Ich habe laut gelacht, das gewisse Auflachen beim „Ja, genau!!“ – Erlebnis.

(Dieses „Ja, genau“, das mir bei Kunst die meiste Freude und Erkenntnis bringt, ist nicht das zufrieden rechthaberische Es-immer-schon -gewusst haben. Bei diesem "Ja genau!" hat man es vielmehr bis zu eben diesem Moment NICHT gewusst, bzw. hat es nicht formulieren können, in Worten nicht und auch nicht in sonstigen wolkigeren Gedankenformationen. Bewusst war einem in diesen Fällen nur die Frage, und auf die präsentiert sich einem mit einem Knall die absolut richtige, einzig mögliche Antwort. Merkwürdig ist dabei nur das Wissen um die Richtigkeit. Dadurch entsteht das Gefühl, die Antwort sei schon lange in einem vorhanden gewesen, und wenn man sie dann liest, stellt sich mehr noch als ein Erkennen das unabweisbare Gefühl des Wiedererkennens ein. Es ist das berühmte und geliebte Evidenzerlebnis,- man kann sein Zustandekommen auf verschiedenste Arten deuten, auf jeden Fall macht es einem aber eine Riesenfreude- und man muss laut lachen, weil es so richtig ist, was man da sieht).


Varianten des Pessimismus. – Der dogmatische Pessimist.
 
Zumeist der verirrte Kleinbürger. Dogmatischer Pessimismus mündet gewöhnlich in dogmatischem Weltverbesserertum. Der dogmatische Pessimismus als Kunst: immer Moralismus. 
Sein häufigster Gegenstand ist die Freudlosigkeit (die unangenehme, jeder Erlösung ermangelnde Beschreibung einer empörenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeit oder eines langen Todeskampfes etwa, wie bei Simone de Beauvoir, «Ein sanfter Tod»). Der moralisierende Künstler bleibt letztlich immer beim persönlichen Fall und bei der fruchtlosen Empörung.
 

Romantischer Pessimismus.
 Er weist die Welt ab, flüstert uns dabei aber seine Geheimnisse ins Ohr. Wie der Gelegenheitsschwindler erschleicht er sich unsere knausrig versteckte Sympathie. Seiner unterschwelligen Tendenz nach ist dieser Pessimismus nämlich Klage, Ergebenheit und Flehen. In den schlimmsten Formen ein verhülltes appellieren an den «nüchternen Verstand».
Dieser Appell an die triumphierende Welt findet immer Gehör. Ergebnis: ein sentimentales Sichumarmen, der Henker verzeiht dem Opfer. –


Der Moralist kann kein Künstler sein, weil er die Welt nicht schafft, sondern über sie richtet und so eine völlig überflüssige Arbeit erledigt. 

Um sich selbst zu rechtfertigen und als Entschädigung, wenn nicht gar aus Rache, zeigt er sein Opfer, den Menschen, als einen ewig moralisch Leidenden, wofür ihn dieser in der Realität natürlich kräftig auslacht. Denn in der Realität ist die Moral ein zwar unabdingbares, zugleich jedoch auch das biegsamste Element menschlichen Verhaltens, und mir ist noch kein moralischer Mensch begegnet, der nicht seine eigene moralische Wahrheit, ja Überlegenheit empfunden hätte. Nicht die Moral: die Spiele, die mit ihr getrieben werden, im Spiegel des Bewußtseins und des Lebenswillens, das ist das Interessante, vornehmlich unter den Bedingungen der totalitären Diktatur.

Montag, 20. April 2015

Zum Tod von Günter Grass 1



Manchmal stirbt jemand und dann wird einem erst bewusst, dass man noch Pläne mit diesem Menschen hatte, dass man ihm im inneren Theater in der Zukunft noch eine Rolle hätte geben wollen. Nachrufe beginnen oft mit einem erschrockenen „ Aber ich wollte doch noch….!“ John Irving hatte einen Brief von Günter Grass auf dem Schreibtisch liegen, als er von seinem Tod erfuhr, den er, so schreibt er im ersten Satz seines Nachrufes ratlos, doch noch beantworten wollte. Grass‘ Verleger schreibt, dass sie gerade mit der Feinarbeit am neuen Buch beginnen wollten, und dass doch auch die erste Lesung schon festgestanden habe, am 12.Mai! , so als wolle er Grass fragen, ob er den Termin etwa einfach vergessen habe.

Mir hat Günter Grass nichts versprochen, er kannte mich gar nicht. Aber als ich von seinem Tod hörte, wurde mir klar, dass da eine Hoffnung gewesen war, die ich allerdings nie, nicht einmal im Kopf, formuliert hatte, aber jetzt, als es keine Chance mehr darauf gab, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich gehofft hatte, Grass mit meinem Vater zusammenbringen, Grass, der gerade überallals Antisemit beschimpft wurde, mit meinem jüdischen Vater, per Post, am Telefon, aber am liebsten von Angesicht zu Angesicht, vielleicht in einem Kaffeehaus.


Es gab eine Zeit, vor etwa einem Jahr, wo ein solcher Plan nicht völlig illusorisch war. Ich hatte damals einen Lektor kennen gelernt, der  seit Neuestem die Werke von Grass betreute. Der Lektor wusste, dass ich durch ein Stipendium der Berliner Akademie der Künste drei Monate lang in dessen ehemaligem Haus in Wewelsfleth an der Elbe gewohnt hatte. So war das Gespräch gleich auf Grass gekommen. Es war die Zeit, wo alle über sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ redeten, darüber, ob es antisemitisch sei. Ich erzählte dem Lektor, dass Grass mir viel  im Kopf herumgegangen sei, als ich unter seinem Dach gewohnt habe. Und ich erzählte ihm, dass ich einen Essay über meinen Aufenthalt in Wewelsfleth geschrieben habe, in dem es Passagen gibt, die davon erzählen, wie lebendig sein Mythos als wilder Kerl immer noch ist, wie man seinen Geist in dem Haus spüren kann, und welche Fragen ich mir über ihn gestellt habe, über den wilden Schriftsteller und den Mann, der das einzige Buch über die Zeit des zweiten Weltkriegs geschrieben hat, das mein jüdischer Vater jemals akzeptiert hat. Ich sagte dem Lektor, dass ich mir vorstellen könnte, dass es einige Abschnitte in meinem Text gäbe, über die sich Grass womöglich freuen würde, was wiederum mich gefreut hätte, denn durch das viele Nachdenken über ihn empfand ich ihn von meiner Seite aus als eine Art Freund. Er aber kannte mich gar nicht und hätte es  vielleicht als Anmaßung empfunden, wenn ich ihm meinen Text geschickt hätte.  Schließlich wohnen jedes Jahr neun Stipendiaten unter seinem ehemaligen Dach und Grass wollte vermutlich nicht mit allen in persönliche Beziehung treten  (eine höfliche Postkarte zum Dank hatte ich ihm schon geschickt). Der Lektor konnte sich nach meiner Erzählung aber gut vorstellen, dass Grass sich tatsächlich freuen würde. Er  bot sich an, die Stellen vorher durchzulesen und sie dann mit einer Erklärung an Grass weiterzugeben.  Also schickte ich ihmgleich am nächsten Tag meinen Text – und wartete ab.

Im Hinterkopf hatte ich die Vorstellung, dass Grass vielleicht den ganzen Text lesen und auf die Auseinandersetzung mit meinem jüdischen Vater stoßen würde, der genau in seinem Alter war. Ich dachte, dass er Parallelen sehen würde zwischen dem zunehmenden Verstummen eines Juden aus seiner Generation und seinen eigenen Schwierigkeiten, sein Verhalten  als junger Mann im Krieg zu erklären und seinem langen Schweigen über seine Zugehörigkeit zur Waffen SS.  Er hätte etwas wie das Gegenbild  zu seinen missglückten Versuchen sich selbst zu verstehen und verstanden zu werden im Schweigen meines Vaters ahnen können.

( So ziemlich der Einzige, der öffentlich mit großem Mitgefühl sein Verständnis dafür geäußert hat, dass Grass so lange über die Mitgliedschaft bei der Waffen SS geschwiegen hat, war der Jude Ivan Nagel. Nagel hat darüber geschrieben, dass er selbst Jahrzehnte gebraucht hat, um irgendetwas über sich in dieser Zeit sagen zu können, und hat damit sein eigenes Schweigen mit dem von Grass verglichen, obwohl Grass doch auf der Seite der Täter war und Nagel ein Opfer).

Mir kam vor, dass Grass sich  bemüht hat, Abbitte zu leisten für etwas, das immer nebulöser wurde, während er es zu greifen versuchte, Abbitte bei Menschen wie meinem Vater. Dass er aber keine richtige Form dafür gefunden hat, und dass seine  Bemühungen ihm nur Verachtung oder Gleichgültigkeit eingebracht hatten, und ihm offenbar auch nicht dazu verholfen hatten, mit sich selbst ins  Reine  zu kommen, so dass er letztlich wie ein wütendes Kind,  wie ein greiser Rowdy,  bei dieser  kindischen Form des Antisemitismus angelangt war, die sagt: „Schaut her wie schrecklich böse die Juden (in Israel) sind, das muss doch gesagt werden dürfen!“

Ich hielt es fürmöglich, dass Grass spüren würde, dass mein Vater genau die Art Mensch war, zu der er eigentlich hätte sprechen wollen.  Es wäre freilich für beide  ein ungeheuer schweres Unterfangen gewesen.   Grass hätte wahrscheinlich meinem Vater gegenüber eine schwer zu definierende  Schuld empfunden,  und wer sollte über die Berechtigung eines solchen Schuldgefühls entscheiden? Mein  Vater wiederum wollte mit niemanden über diese Zeit sprechen, schon gar nicht über Schuld und Wiedergutmachungen. Aber als Grass „Die Blechtrommel“ geschrieben hatte, war es noch „aus ihm herausgestürzt“ , schneller als er es aufschreiben konnte, und es war so wahr gewesen, so lebendig, dass mein Vater es gelesen und sich wiedererkannt hatte, der jüdische Jugendliche aus Bukarest, der im selben Jahr, in dem sich Grass in Danzig freiwillig zu Wehrmacht gemeldet hat, weil er ein glühender junger Nazi war, von der Schule entfernt wurde, weil die Judengesetze in Bukarest es den jüdischen Kindern nicht mehr erlaubten auf die staatlichen Schulen zu gehen, und der während Grass den Umgang mit der Waffe erlernte, die Straßen reinigen musste, auf denen seine ehemaligen Kameraden immer noch zur Schule gingen. Sie waren, so sollte man meinen, natürliche Feinde, ihre Erlebnisse hätten unterschiedlicher nicht sein können. Aber tatsächlich war das, was sie von der Welt gesehen und nur nach und nach begriffen haben können , so ähnlich, und Grass hat es in der Blechtrommel so wahrhaftig geschildert, so unverblendet von Ideologie, obwohl er doch gerade noch durch und durch Nazi gewesen war, dass mein Vater denken konnte : Ja, genau,so war es! - und mir das Buch zum Lesen gegeben hat, als ich etwa 15 Jahre alt war. In gewisser Weise war es das Einzige, wodurch er mir etwas darüber erzählt hat, wie es ihm in der Zeit ergangen ist als er 15 war.  „Die Blechtrommel“ hat damals das, wie ich finde, Nobelste erreicht, was ein Roman leisten kann: sie hat einem Menschen-  mir- , ermöglicht, an Teilen der Erfahrung meines Vaters teilzunehmen, über den Umweg eines Dritten, des Autors.

Bei einer der ganz wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mit meinem Vater  über den Krieg, die Zeit danach, und das, was es für ihn bedeutet hat, gesprochen habe (solche Gespräche waren immer nach wenigen Minuten vorbei, wurden von ihm in einem Tonfall abgeschnitten, der mir klarmachen sollte, dass es unpassend, ungehörig, geradezu widerlich von mir sei, nach diesen Dingen überhaupt zu  fragen), bei einer dieser Gelegenheiten sagte er also sinngemäß: direkt nach dem Krieg habe man keine Zeit gehabt, über irgendetwas Grundsätzliches zu sprechen. Es sei ja alles kaputt gewesen, im Krankenhaus - er studierte Medizin- habe es kein Wasser gegeben, keinen Strom, man habe das Nötigste aufbauen müssen um zu überleben. Aber er habe erwartet, dass es später, wenn alles in halbwegs geregelte Bahnen zurückgekehrt wäre, eine große Diskussion geben werde, zwischen allen, eine Diskussion darüber, wie denn die Menschen nun miteinander weiter leben könnten, nach dem, was passiert sei. Aber diese Diskussion habe es nie gegeben, und nach einiger Zeit habe er begriffen, dass sie auch nie kommen würde, dass er sich damit werde arrangieren müssen.

Wenn ich das aufschreibe, spüre ich welche Hoffnungen er damit begraben hat. Wie viel von dem, was man sich unter einem „guten Leben“ vorstellte, damit für ihn verloren war. Das macht mich ungeheuer wütend. Auf die Welt, und auch auf ihn. Denn er hat diese Form des Sich- Arrangierens,  der Abkapselung und des permanente Misstrauen, als einzig mögliche Überlebensform auch für mich zementiert.

Aber als Grass „Die Blechtommel“ geschrieben und mein Vater sie gelesen hat, und auch noch ein paar Jahre später, als mein Vater sie mir zum Lesen gegeben hat, war dieses Gespräch noch im Bereich des Möglichen. Ich weiß nicht, wie das jahrzehntelange Schweigen für meinen Vater war, ich weiß nur, dass seine Lebensfreude verschwunden ist, für mich war es eine Qual. Und es ist offensichtlich, dass es Grass keine Ruhe gelassen hat, wie er sich von dem wilden, widersprüchlichen und um Wahrhaftigkeit bemühten Autor  der Blechtrommel zum „Gewissen der Nation“ gewandelt hat, ohne sich doch selbst besser verstanden zu haben.  Während mein Vater geschwiegen hat, hat Grass zunehmend jene Sprache verloren, mit der er der Wahrheit über sich und über die Zeit des Krieges hätte näher kommen können. Wieso?

Samstag, 4. April 2015

Will Self Über Satire



Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo hat BBC 4 den Autor Will Self um eine Stellungnahme zur aktuellen Rolle der Satire in der Gesellschaft gebeten. Sie hatten von ihm, dem berühmten Satiriker, eine flammende Rede darüber erwartet, dass der Satire alles erlaubt sein müsse, aber er kommt zu einem ganz anderen Ergebnis:


 
Will Self ist einer meiner beiden Leib- und Magenautoren, wenn es um Literatur über Psychiatrie/Psychosen / Drogen/Bewusstsein geht (der andere ist Rainald Götz). Seine Bücher aus den 80-er Jahren sind  allerschwärzeste Satiren, bösartig, mörderisch überdreht, ekelhaft und enorm lustig. Obwohl Self damals oft als britischer Gegenpart zu Bret Easton Ellis bezeichnet wurde, und obwohl seine Texte ebenso drastisch waren wie die von Ellis, wirkten sie auf mich ganz anders, komplex, zärtlich, verzweifelt, und zutiefst dem Glauben an eine bessere Welt verpflichtet. Durch „DieQuantitätstheorie des Irrsins“ von Will Self (und durch „Irre“ von Götz) verstand ich, was ich selbst in der Psychiatrie empfunden hatte, er holte es aus allen Teilen meines Gehirns, machte eine Erzählung daraus, formulierte es für mich. Er erzeugt diesen wunderbaren „Ja, genau! “ Effekt, ich erfuhr, dass ich nicht allein war und auch, dass Literatur das bewirken konnte. In seinen beiden neuen Romanen „Umbrella“ und „Shark“ kehrt Will Self zu einer  Figur aus der Quantitätstheorie des Irrsinns, dem Psychiater Zack Busner, zurück, aber sein Stil hat sich völlig gewandelt. Wo früher bösartige Groteske war, taucht man jetzt tief in die Psyche der einzelnen Personen, ihre Gedankenströme sind kunstvoll ineinander verflochten- deutlich nach dem Vorbild von Joyce- jede Satire ist verschwunden.  Die Wandlung ist verblüffend, als habe Self sich gesagt: „now to something completely different“ (übrigens mit stupendem Erfolg, ich werde alle drei Bücher, das alte und die beiden neuen demnächst hier besprechen).  
Ich dachte beim Lesen von „Umbrella“ , vielleicht sei es einfach eine Frage des Alters, vielleicht bleibe keiner ein Leben lang bissiger Satiriker. Lustiger Weise nennt  Self in seinem Radiobeitrag als erstes denselben Verdacht.  Ihm fällt auf, dass er als Satiriker zu den Vorfällen befragt wird, seine beiden letzten Bücher aber überhaupt keine Satiren mehr sind.  Er ist besorgt, ob er womöglich wie so viele alternde Komiker nun endlich ernst genommen werden möchte. Aber dann kommt er zu einem anderen Ergebnis. Er fragt sich, wann Satire die richtige Form ist. Wann ist es für ihn in Ordnung, sich über etwas lustig zu machen?  Und er nennt die Regel, an die er sich bei Satire immer gehalten hat:  
 „It should comfort the afflicted and afflict the comfortable“.
Es sollte die Gequälten trösten und die Satten quälen“. Vor jeder Veröffentlichung eines Textes hat er sich gefragt: Wen tröstet er? Wen quält er?

Will Self kommt zu dem sehr einleuchtenden Schluss, dass es für Satire einen gemeinsamen Wertebezugsrahmen geben muss, sonst funktioniert sie nicht. Satire kann die Scheinheiligkeit der Mächtigen dem Gelächter preisgeben, sie kann die, die sich allzu bequem in ihrer Moral eingerichtet haben, quälen. Das hat aber zur Voraussetzung, dass die Mächtigen, um die es geht, zumindest vorgeben, an dieselben Werte zu glauben wie diejenigen, die sie mit Hilfe ebendieser  Moral  gefügig halten wollen. Andererseits kann Satire auch „systemerhaltend“ sein, indem sie zeigt, dass sich niemand wirklich hundertprozentig an die Regeln hält, dass nichts so heiß gegessen wie gekocht wird, sie kann die Gequälten trösten, indem sie zeigt, dass wir alle unsere Schwächen haben.

Wie verhält sich das mit Witzen oder Satire über Religion? Eigentlich funktioniert das immer nur innerhalb einer Religionsgemeinschaft. Zum Beispiel gibt es innerhalb der jüdischen Gemeinden viele Witze, die sich damit beschäftigen, wie die Regeln, was man am Schabbes alles nicht tun darf- nicht mehr als soundso viele Schritte gehen, keine technischen Geräte bedienen etc.- mit listigen Tricks umgangen werden können. Der klassische Witz dazu geht so:  Drei Männer streiten sich, welches Dorf  den großartigsten Wunderrabbi hat. Der erste sagt: „Unser Rabbi kann tun Wunder wie  Moses! Neulich is a Jüngelach hinausgefahren mit dem Boot auf den See. Plötzlich kippt das Boot um, das Jüngelach fallt ins Wasser und hätt gemusst ertrinken. Alles steht und schaut, aber keiner kann schwimmen. Da hat unser Rabbi gehoben die Hand, links war Wasser, rechts war Wasser und in der Mitte ist der Rabbi gegangen und hat gerettet das Jüngelach.“ „Das ist noch gar nichts“, sagt der zweite, „bei uns im Dorf war a schreckliches Feuer. A ganzes Haus hat gebrannt und ganz oben unter dem Dach eine Frau mit ihrem Kind. Da hat unser Rabbi gehoben die Hand, links war Feuer, rechts war Feuer, in der Mitte hat sich geöfffnet ein Gang, und der Rabbi ist hinauf und hat gerettet die Mutter und das Kind.“ Sagt der dritte: „Peanuts! Bei uns war das ganze Dorf in Gefahr. Es hat sollen geben ein Prozess und wenn der Rabbi nicht hätte rechtzeitig vor Gericht vorsprechen könne, wäre es mit uns allen aus gewesen. Aber das Gericht war meilenweit weg in der nächsten Stadt und es war Schabbes- wie hätte er hinkommen sollen? Wir waren verzweifelt, haben gedacht, es ist alles aus. Da hat der Rabbi gehoben die Hand- und was soll ich euch sagen? Links war Schabbes, rechts war Schabbes- und in der Mitte ist gefahren der Zug!“    Dieser Witz ist zu einer stehenden Redewendung geworden,  immer wenn man sich aus den Schabbesregeln herauswinden möchte. Das heißt man lacht darüber, wie man sich die Regeln zurecht biegt, das Lachen ermöglicht es, zu sagen: wir alle nehmen es nicht ganz so streng mit den Regeln, wir sind aber deshalb noch keine schlechten Menschen, wir werden einander auch nicht gleich aus der Gemeinschaft hinauswerfen, wir sind alle schwach , aber wir lachen darüber. Das ist das Systemerhaltende an diesen Witzen. Das funktioniert natürlich nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Es funktioniert nicht, wenn derjenige, der den Witz erzählt, und der, der ihn hört, nicht den selben Bezugsrahmen haben.  Wenn der, der ihn hört, gar nicht weiß, was am Schabbes alles verboten ist, versteht er nicht, worin der Witz liegt. Wenn sich aber zwei Nichtjuden diesen Witz erzählen, dann vielleicht um drüber zu lachen, dass Juden Menschen sind, die ihre eigenen Regeln mit gefinkelten Tricks umgehen. Und womöglich sind das zwei selbstgerechte Menschen, die denken: wir halten unsere Regeln ein, aber Juden tun das nicht. Dann bedeutet dieser Witz nicht mehr: wir sind doch alle schwach, sondern: Juden beugen Regeln zu ihrem eigenen Vorteil, sind schlechtere Menschen als wir und das ist es worüber wir lachen. Auf einmal ist das keine tröstliche Satire mehr sondern Antisemitismus. Es ist derselbe Witz, aber ohne gemeinsamen Kontext wird er offensiv

Es gibt auch Religionswitze, die so gehen: Treffen sich ein Rabbi, ein Priester und ein Imam an einem heißen Tag an einem See, aber sie haben keine Badehose dabei… Oder so: Ein Jude, ein Christ und Atheist stehen an der Himmelstür und wollen hinein…. Es folgen Geschichten darüber, wie sich jeder von den Dreien auf seine jeweils eigene  Art aus dem  Dilemma herauswurschtelt. Diese Art von Witzen hat ebenfalls einen gemeinsamen Kontext, der in etwa lautet: wir haben alle irgendein System aus ethischen Regeln. Wir alle befolgen einen Teil dieser Regeln, wir alle haben aber auch unsere Mittel und Tricks um sie zu beugen. Wir haben zwar nicht alle dieselbe Religion, aber wir sind uns insofern ähnlich, als wir alle ein Moralsystem haben,  das, wenn es nicht selbst eine Religion ist, so doch aus einer abgeleitet ist.  Und  während wie uns im Großen und Ganzen daran halten, begehen wir doch alle unsere kleinen Sünden.  So kann es auch bei Angehörigen verschiedener Religionen einen gemeinsamen Raum geben, in dem man lachen kann. Der muss aber hergestellt werden und jeder, der an ihm teilhat, muss bereit sein, als erstes die Schwächen der eigenen Gruppe der Lächerlichkeit preiszugeben. Das ist nur möglich, wenn zwischen den Gruppen politisch und ökonomisch einigermaßen Frieden herrscht.

Will Self meint, dass es diesen gemeinsamen Raum in Frankreich oder auch bei ihm in England zur Zeit nicht gibt. Die Karikaturen in Charlie Hebdo seien von den Falschen für die Falschen gemacht gewesen, hätten nicht die Mächtigen beunruhigt und die Schwachen getröstet. 

Ich hatte mir über das alles noch keine Gedanken gemacht. Ich habe seit einiger Zeit versucht, mir den ironischen Stil zurück zu erobern, den ich vor langer Zeit aufgegeben hatte.  Als ich zu schreiben begann,  war der ironische Ton bei mir sozusagen Werkseinstellung.  Er funktionierte in jungen Jahren gut in Briefen, in Artikeln für die Schülerzeitung,  später auch für die Stadtzeitung und in ein paar kleinen Geschichten. Mein Stil galt als leicht und amüsant und ich schrieb mühelos und schnell (selige Zeiten waren das!). 

Bald darauf begriff ich mich dann aber als Teil der außerparlamentarischen Linken.  Und da hieß es, wer über gesellschaftliche Probleme so schreibt, dass man über sie lachen kann, verschafft jener Wut ein Ventil, die den Umsturz der Verhältnisse herbeiführen könnte. Das wollte ich nicht, und ich musste auch zugeben, dass meine Ironie tatsächlich einer fatalistischen Grundhaltung entsprang. Wenn ich den Tonfall in meinem Innere einschaltete, konnte ich mein jüdische Großmutter hören, wenn sie sagte „ No, wos soll man scho machen“, oder aber die orientalischen Händler am Wiener Naschmarkt, die mit derselben Geste, die auch meine Großmutter machte – zum Himmel gedrehte Handflächen, ein seitlich geneigter Kopf, hochgezogene Schultern- „Inschallah“ sagten, wenn ihnen eine Steige Obst hinunterfiel und am Boden zerplatzte. Aber es sollte eben kein Schicksal sein, dass alles so blieb, wie es war, es sollte sich alles ändern, und ich gab meinen ironischen Tonfall auf. 

Nun, da es mit der Revolution nichts geworden ist und ich durchaus nicht mehr denke, dass alle Konflikte zwischen Menschen unbedingt radikal zugespitzt werden sollten, habe ich versucht, die ironische Sprache wieder einzusetzen. Aber ich merke, genau wie Will Self es beschreibt, dass mir diese Sprache nicht mehr so zur Verfügung steht wie früher. Zwar glaube ich, den Tonfall noch zu beherrschen, aber ich muss vorsichtig sein. Oft bin ich nicht mehr lustig sondern beleidigend. Rund um mich ist keine Gruppe mehr, die sich ganz selbstverständlich auf gemeinsame Wertvorstellungen beziehen würde. Aber  Witze müssen „grenzwertig“ sein, wenn sie nicht an einer Grenze balancieren, sind sie nicht lustig. Ich komme aus einer jüdischen Familie. Ich weiß, dass die allerübelsten Witze über Juden von Juden erzählt werden. Und es nicht etwa so, dass sie denken es sei ja „gar nichts dran“ – dann wären sie auch nicht lustig. Aber wenn dieselben- oder sogar  viel mildere Witze von Nichtjuden erzählt werden, dann wittern Juden schnell Antisemitismus, und wer könnte ihnen das verübeln. Christen, die intern gern alles locker nehmen, werden Atheisten gegenüber schnell „päpstlicher als der Papst“ wenn sie sich angegriffen fühlen. Und ich bin sicher, dass auch Muslime sich nicht zu jeder Zeit derart schnell beleidigt gefühlt haben wie jetzt,  wenn der Name des Propheten fiel.

 Nehmen wir die Schottenwitze- in der Hoffnung, dass kein einziger Schotte diese Zeilen liest. Schottenwitze habe nur ein einziges Thema: Schotten sind furchtbar geizig.  Auch Schotten selbst erzählen diese Witze. Und nach allem, was man hört, ist an der Sache auch was dran. Bis zu einem gewissen Grad kann man also Schotten damit aufziehen. Man kann seinen Ärger darüber, dass sie zum Beispiel zu wenig Trinkgeld geben, mit einem Witz entschärfen. Voraussetzung dafür ist eine gemeinsame Grundeinstellung, die da heißt, man soll nicht alles für sich behalten, sondern immer auch einen Teil der Allgemeinheit geben, großzügig sein, auch wenn man persönlich nichts dafür zurück bekommt.  Alle denken das,  und allen ist gleichzeitig es ein bisschen unangenehm, etwas hergeben zu müssen. Am schlimmsten ist das bei den Schotten, sagen Witze und Vorurteile, und auch die Schotten selbst. Solange man Witze darüber machen kann, und auch sagen kann: jedes Volk hat so seine Mätzchen. Schotten sind geizig, andere haben andere Fehler, - solange muss man sich eventuell deswegen nicht die Schädel einschlagen. Solche Satiren sind systemerhaltend und das System ist das des halbwegs friedlichen Zusammenlebens von Gruppen mit verschiedenen Mentalitäten. Über die kann man sich lustig machen, und eventuell muss man da auch ein bisschen verhandeln, aber man kann auch damit leben. Man muss niemanden deshalb ausschließen, verjagen oder gar umbringen. Das muss klar sein. Ohne dieses  Grundvertrauen sind Witze nicht möglich. 

Dieses Grundvertrauen ist nicht mehr da. Will Self kommt deshalb zu dem Schluss, dass Satire unter den momentanen multikulturellen Bedingungen nicht möglich ist. Allen das gemeinsame System aufzuzwingen, das die Witze erst verständlich und dann lustig macht, hält er für Kulturimperialismus. 

Was für ein Verlust.  Wie schade, diesen gewissen Stil nicht mehr benutzen zu können, der in Andeutungen spricht; den Tonfall, der davon ausgeht, dass alle, die etwas von einem lesen werden, im Grunde dasselbe denken, wünschen, verachten, ahnen wie man selbst; dass man Codes zur Verfügung hat, um sich über Unaussprechliches zu verständigen, weil man- zu einem gemeinsamen Stamm gehört.
Der Komiker Jerry Seinfeld hat neulich in einem Interview gesagt, der schönste Moment bei der Emmy Verleihung sei für ihn immer, wenn die Comedy Schreiber auf die Bühne kommen. „Du siehst diese Gnom- artigen Kretins, fast alle irgendwie missgebildet. Und du denkst dir: ja, so bin ich. Da gehöre ich dazu. Das ist mein Stamm. Wenn du fünfzig bist, willst  du nicht mehr bei den coolen Leuten sein. Du willst bei deinen Leuten sein.“
Als er das sagte „I knew: that’s me, that‘s my tribe“ hat es mir die Tränen in die Augen getrieben  vor lauter Selbstmitleid, weil ich keinen solchen Stamm habe. Und bestimmt ist es kein Zufall, dass gerade die Comedy Schreiber so etwas von sich sagen können, denn wenn sie es nicht könnten, wenn sie keine große Gruppe da draußen spüren würden, die im Grund so denkt und fühlt wie sie, dann könnten sie ihr Witze nicht machen. (Und natürlich sind das die Kulturimperialisten, ich bin froh dass mir Will Self ein so böses Schimpfwort aus den guten alten linken Tagen für sie an die Hand gegeben hat,  wenn ich schon nicht zu ihnen gehören kann.  Saure Trauben…)

Die beiden letzten Romane von Will Self sind großartig. Er hat sich sprachlich völlig neue Bereiche erschlossen, seit er nicht mehr satirisch schreibt. Vielleicht ist es immer auch eine Chance, keinen Stamm mehr zu haben, mit dem man sich über Codes austauschen kann. Denn ich spreche ja auch zu mir selbst im Kopf in demselben ironischen Ton, in dem ich früher so locker schreiben konnte; ich benutze auch mir selbst gegenüber diese Auslassungen, habe auch für mich an den „gewissen Stellen“  keine Worte. Codes sind Übereinkünfte innerhalb einer Gruppe,  gibt es die Gruppe nicht mehr,  zerbröckeln die Codes mit der Zeit. Und dann, wenn an diesen Stellen, an denen ich früher mit mir selbst witzeln konnte, endgültig  keine Verständigung mehr möglich sein wird, werde ich versuchen müssen, neue Ausdrucksformen zu finden, um wenigstens mit mir selbst zu reden.