Dienstag, 5. September 2017

Deutscher Buchpreis Longlist Das Leseprobenheft Teil 2

Ich lese die Proben im Leseprobenheft, und befrage mich, ob ich das jeweilige Buch gern weiter lesen würde- 1: nach einer Seite 2: nach dem Lesen der fünfseitigen Probe im Heft.

Heute Helfer, Höthker, Lehr. Teil 1 hier.

MONIKA HELFER Schau mich an, wenn ich mit dir rede!

1: Ja
2:  Vielleicht

1: Es beginnt mit einer sehr prägnanten Szene. Die Erzählerin sitzt in der U-Bahn einer Mutter und ihrer Tochter gegenüber. Die Mutter hackt auf der Tochter herum:

"Wie heißt deine neue liebe, liebe Mama? Ich vergesse ihren Namen immer, weil er so blöd ist."
Das Kind zog den Kopf ein. Sagte aber nichts. 

Genau beobachtete Situation, ausgezeichnete Dialoge. Schrecklich für das Kind, die Mutter kann man aber auch verstehen. Ich würde weiterlesen um herauszufinden, was mit dem Kind passiert.


2: Es gibt noch eine zweite  Ebene: den Gedankenstrom der Erzählerin.  Sie überlegt, wie sie die Szene verfilmen würde, schwarz weiß, wie einen Brüder Coen Film, wie sie die Figuren nennen würde usw. Das stört mich am Anfang ein bisschen, dann immer mehr. Es wirkt ein bisschen gekünstelt auf mich, weil man das heutzutage halt so macht, Relativierung, Distanz usw. Auf Seite vier steht es dann so langsam so, dass mich die Erzählung darüber, wie das alles im Kopf der Erzählerin konstruiert wird, daran hindert, mich auf die Geschichte von Mutter und Tochter einzulassen. Nun könnte ich stattdessen mit der Erzählerin mitfühlen, nur gibts da - bis Seite fünf- nichts, womit man mitfühlen könnte. Die Erzählerin hat bis dahin kein Eigenleben, mein Interesse für das, was sie erzählt, nimmt also immer mehr ab, das für das Schicksal der Erzählerin aber nicht zu. In Summe wird mein Interesse insgesamt weniger. Wenn sich an der Erzählbewegung nicht bald was ändert, würde ich aufhören zu lesen, obwohl mich der Anfang gleich reingezogen hat.

  
CHRISTOPH HÖTHKER  Das  Jahr der Frauen

1: ja
2: ja

1: Die erste Seite besteht nur aus Dialog. Ein Mann mit seinem Psychotherapeuten, direkt nach Silvester. Der Therapeut fragt nach Vorsätzen. Drauf der Klient:

"Das Jahr hat zwölf Monate, richtig? Pro Monat werde ich versuchen, eine Frau zu verbrauchen. Wie hört sich das für Sie an?
"Das ist ein durchaus ...  ambitionierter Plan. Was versprechen Sie sich davon?"
"Absolut nichts." 

Falls er es schafft, das mit den zwölf Frauen, dann will er von seinem Therapeuten die Erlaubnis sich umzubringen.
Schnell, witzig, interessant- ich lese weiter.

2: Szene zwei- ab jetzt ist der Möchtegernselbstmörder der Ich-erzähler der Geschichte. Ich mag die Erzählerstimme sehr. Der Kerl ist total unsympathisch- aber auf sympathische Art. Einer von denen, die auch im Selbstgespräch nie aus dem zynischen Veleugnungsschwadronieren herauskommen, das sie selbst für elegante Ironie halten.  Was er als Antwort auf eine Kontaktanzeige schreibt, um die erste der zwölf Frauen an Land zu ziehen, ist haarsträubend. Sehr unterhaltsam- ich lese weiter.

THOMAS LEHR  Schlafende Sonne

1: Ja
2 :Nein. Obwohl.

1: Ich lese schon aus Ehrgeiz weiter. Dieser Text hat einen hohen Anspruch, man braucht lange um zu verstehen, was eigentlich los ist: Jonas liegt im Bett, in seinem Hirn ein Traumrest im halben Aufwachen,  er denkt an seine Frau Milena, die offenbar was mit einem anderen hat, einem gewissen Rudolf.  Um das zu verstehen, muss man zweimal lesen, hauptsächlich denkt Jonas nämlich an die Sonne, sein Forschungsgebiet, und auch wenn man es begriffen hat, ist immer noch nicht klar, ob die Erzählung tatsächlich irgendwann in die Perspektive der Frau hinüberwechselt, die beim Aufwachen eine sexuelle Phantasie hat, oder ob das alles Jonas' Phantasie von der Phantasie seiner abwesenden Frau ist. Außerdem gibt es noch einen diktatorischen  auktorialen Erzähler, der dazwischenspricht.  Alles in langen, mäandernden Sätzen, die einen schönen Rhythmus haben. Das hier will große Kunst sein, der Wille allein wirkt schon anziehend auf mich, ich lese weiter, obwohl sich in mir auch Widerstände aufbauen ....

2: ... Widerstände, die irgendwann überhand nehmen, sosehr, dass ich das alles nicht mehr will, es mich abstößt.  Das dürfte zu einem großen Teil daran liegen, dass ziemlich am Anfang die sexuelle Phantasie der Frau steht, von der man nicht weiß, ob sie wirklich- also wirklich im Universum des Buches - ist, oder die Phantasie von Jonas über eine Phantasie von Milena. Jedenfalls denkt sich da aber eine Mann eine weibliche Phantasie aus- ohne die kleinsten Zweifel- und wie er das macht, ist mir total zuwider. Sie, Milena, stellt sich "einen blonden Kopf zwischen ihren Beinen"  vor

"..der, als gäbe es einen Mechanismus, ihr eine lange muskulöse Zunge herausstreckt ..." . 

 Und kurz darauf mahnt der auktoriale Erzähler den Mann: 
"Übe deine Zunge, Jonas, der du gerade zu spüren glaubst wie dich die Erde im Stich lässt..."

Ich weiß gar nicht genau, was mich daran so stört, es hängt sicher mit der selbstgewissen, allwissenden Stimme zusammen, die hier behauptet die Phantasie einer Frau zu kennen- die ich, so wie sie hier formuliert ist, in höchstem Maß unappetitlich finde. Besonders dieses biblische "Übe deine Zunge!", das offenbar ein neues Jahrhundert bezeichnet- früher musste man seine Zunge hüten, heute müssen die Männer sie üben...  Ich bin vermutlich älter und prüde geworden- und gleichzeitig noch allergischer gegenüber Männern, die über die Sexualität von Frauen sprechen und sich dabei irgendwie allwissend gebärden. Sicher, das alles ist eine Figur, usw, muss erlaubt sein, nur ist mir die Stimme des auktorialen Erzählers dadurch einfach unsympathisch geworden und ich will nicht mehr so viele Seiten mit ihm verbringen. Ich lese nicht weiter.
Obwohl... es ist alles sehr kunstvoll miteinander verschränkt, die Sprache, in der der Erzähler seine mir unsympathische Weltsicht ausbreitet, ist gut, kann viel, vielleicht sollte ich doch weiterlesen...



 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen